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Schattenfall

Schattenfall

Titel: Schattenfall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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auf hoher See. Nur der Himmel, dessen Wolken wie treibende Eisberge aussahen, schien Tiefe zu haben.
    »Die Dûnyain«, sagte Kellhus nach einiger Zeit, »haben sich dem Logos unterworfen – dem, was du Verstand oder Intellekt nennen würdest. Wir erstreben vollkommenes Bewusstsein, autonomes Denken. Die Gedanken aller Menschen steigen aus dem Dunkel auf.
    Wenn die Ursachen deiner Gedanken und Gefühle außerhalb von dir liegen und lange vor dir da waren – wie kannst du dann glauben, dass das, was du denkst und fühlst, deine Gedanken und Gefühle sind und sie dich zu einem Individuum machen? Denn was bist du anderes als der Sklave eines Dunkels, das aus der Vergangenheit auf dich überkommen ist? Nur der Logos vermag diese Sklaverei zu lindern. Nur indem wir die Ursachen unseres Denkens und Handelns erkennen, können wir Souveränität über unser Denken und Handeln gewinnen und das Joch des Zusammenhangs abwerfen. Allein die Dûnyain besitzen dieses Wissen. Die übrige Welt hingegen schlummert in den Ketten der Ignoranz. Einzig die Dûnyain sind wach – doch Moënghus, mein Vater, gefährdet dieses Arrangement.«
    Wohl deutlicher als die meisten Menschen wusste Cnaiür, dass die Gedanken aus dem Dunkel aufstiegen. Wie oft hatten ihn schon Überlegungen verfolgt, die unmöglich seine eigenen sein konnten! Wie oft hatte er schon eine seiner Frauen geschlagen und dann seine schmerzende Handfläche betrachtet und gedacht: Wer hat mich bloß dazu gebracht, das zu tun?
    Aber das war nebensächlich.
    »Daran liegt es nicht, dass ich dir nicht glaube«, sagte Cnaiür und dachte: Das weiß er ohnehin längst. Der Dûnyain durchschaute ihn so mühelos, wie seine Stammesbrüder die Stimmung ihrer Herden erkannten.
    Als habe er auch diesen Gedanken lesen können, meinte Kellhus: »Du glaubst nicht, dass ein Sohn seinen Vater ermorden kann.«
    »Stimmt.«
    Der Dûnyain nickte. »Alle Gefühle – nicht nur die Liebe eines Sohns zu seinem Vater – liefern uns dem Dunkel aus und machen uns zu Sklaven der Konvention wie des Verlangens…« Mit seinen strahlend blauen, ungemein beruhigend wirkenden Augen zog Kellhus Cnaiürs Blick in Bann. »Ich liebe meinen Vater nicht. Ich liebe nichts und niemanden. Wenn seine Ermordung meiner Bruderschaft ermöglicht, ihre Mission fortzusetzen, töte ich ihn.«
    Cnaiür stierte seinen Begleiter mit vor Erschöpfung dröhnendem Kopf an. War das wirklich glaubhaft? Was Kellhus sagte, schien ihm durchaus sinnvoll und stimmig, doch er argwöhnte, der Dûnyain könnte letztlich alles glaubwürdig klingen lassen.
    »Aber damit«, fuhr Anasûrimbor Kellhus fort, »kennst du dich ja gut aus.«
    »Womit?«
    »Mit Söhnen, die ihren Vater umbringen.«
     
     
    Der Scylvendi gab darauf keine Antwort, sondern warf seinem Begleiter nur einen kurzen Blick zu, der bei aller Wut recht angeknackst wirkte, und spuckte verächtlich auf den Boden.
    Der Dunyain betrachtete Cnaiür mit jener gleichschwebenden Aufmerksamkeit, die es ihm ermöglichte, jede Seelenregung und Körperbewegung des Häuptlings ungefiltert und unverstellt in sich aufzunehmen. Die Steppe, das nahe Flüsschen und alles ringsum wich zurück. Seine Konzentration ruhte ausschließlich auf Cnaiür von Skiötha – auf dem schnellen Rhythmus seines Atmens; auf den Muskeln, die seine Mimik bestimmten; auf dem Puls seiner Halsschlagader, der an einen sich vorarbeitenden Regenwurm erinnerte. Cnaiür wurde ein Kaleidoskop von Merkmalen, ein lebendiger Text, und Kellhus würde der Leser sein. Wenn die Umstände es erforderten, galt es eben, noch das kleinste Detail zu registrieren.
    Seit Kellhus den Trapper verlassen hatte und durch die nördliche Einöde nach Süden floh, war er vielen Menschen begegnet, vor allem in der Stadt Atrithau. Dort hatte er festgestellt, dass Leweth – also der Fallensteller, der ihn gerettet hatte – keine Ausnahme war, im Gegenteil: Es schien, als wären alle Menschen genauso einfältig und fehlgeleitet wie er. Kellhus hatte nur ein paar elementare Wahrheiten zu sagen brauchen, und sie waren in bewunderndes Staunen ausgebrochen. Er hatte diese Wahrheiten nur zu einfachen Vorträgen zusammenfassen müssen, und sie hatten ihren Besitz, ihren Partner und sogar ihre Kinder aufgegeben. Siebenundvierzig Männer hatten ihn begleitet, als er Atrithau zu Pferd durch das Südtor verlassen hatte – Männer, die sich Adunyani genannt hatten, »kleine Dûnyain« also. Nicht einer von ihnen hatte den Zug durch Suskara überlebt.

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