Schattenfreundin
ins Schlafzimmer zurückgezogen hatte, war Katrin in Leos Zimmer geflüchtet. Sie hatte sich auf sein Bett gesetzt, den Teddy fest umklammert, und dabei auf die Bilder gestarrt, die ihr kleiner Sohn gemalt hatte und die jetzt an der Wand klebten. Ein buntes Durcheinander aus Kringeln und Strichen, dazwischen drei Strichmännchen, zwei große und ein kleines. Papa, Mama, Leo.
Sie fühlte sich so unendlich leer. Und in diese Leere hinein stießen Gefühle, die ihr fremd waren. Wut und Hass. Thomas hatte sie betrogen. Wie konnte er ihr das antun! Wie konnte er behaupten, das Ganze hätte keine Bedeutung gehabt! Vielleicht war diese Christa gar nicht die Einzige gewesen? Lag es wirklich immer nur an der vielen Arbeit, dass er oft erst spät nach Hause kam? Tränen liefen ihr über die Wangen. Seit fünfzehn Jahren, seit sie verheiratet waren, hatte Katrin immer geglaubt, sie sei die einzige Frau in Thomas’ Leben. Ihre Gedanken wanderten zurück, bis zu dem Augenblick, als sie Thomas zum ersten Mal gesehen hatte. Hals über Kopf hatte sie sich damals in ihn verliebt, als er in die Mensa gekommen war. Eigentlich hätte sie dort gar nicht essen dürfen, sie war ja nicht an der Uni. Aber von diesem Tag an war sie jeden Mittag hingegangen. Sie hatte sofort gemerkt, dass sie nicht die Einzige war, die sich in ihn verliebt hatte. Ständig schwirrten irgendwelche gut aussehenden Studentinnen um ihn herum. Aber er hatte nur Augen für sie gehabt … Oder nicht? Hatte sie sich schon damals getäuscht? Wie gut er ausgesehen hatte mit seinen dunklen Haaren und den strahlend blauen Augen … Sie hatte immer an seine Treue geglaubt, hatte von einer Bilderbuchfamilie geträumt, von einer Zukunft mit einem Mann, um den alle anderen Frauen sie beneideten und der ein leidenschaftlicher Liebhaber war und gleichzeitig der beste Freund … und natürlich auch ein liebevoller Vater. Wie naiv sie doch gewesen war! Die meisten ihrer Freundinnen waren irgendwann betrogen worden, hatte sie wirklich geglaubt, dass ihr so etwas niemals passieren würde?
6
Charlotte fuhr auf den Parkplatz des Kindergartens. Während Peter Käfer herauszufinden versuchte, was sich hinter dem Namen Alekto verbarg, wollte sie noch einmal mit Ben sprechen, Leos bestem Freund. Mit seiner Mutter hatte sie verabredet, den kleinen Jungen im Besprechungsraum des Kindergartens zu befragen. Sie hoffte, dass Ben sich in der vertrauten Umgebung, in der er sonst immer mit Leo spielte, besser an Details erinnern konnte.
Während Charlotte aus dem Auto stieg und auf den roten Backsteinbau zuging, dessen Fenster mit bunten Bildern beklebt waren, drangen typische Kindergeräusche zu ihr: Schreien, Lachen und Weinen.
Nachdem sie zweimal geklingelt hatte, summte der Türöffner, und eine sportliche Person um die vierzig mit kurzen blondierten Haaren und solariumgebräunter Haut öffnete die Tür.
»Charlotte Schneidmann«, sagte sie und hielt ihren Ausweis hoch. »Sind Sie Regina Hellmann, die Leiterin des Kindergartens?«
Die Frau nickte ernst.
»Können wir irgendwo ungestört reden?«
Charlotte folgte Frau Hellmann in deren kleines Büro. Obwohl sie die Leiterin des Kindergartens schon telefonisch informiert hatte, stand ihr das Entsetzen ins Gesicht geschrieben, während sie über Leos Verschwinden sprachen.
»Mein Gott«, sagte sie betroffen. »Das arme Kind. Die armen Eltern.«
»Für uns ist jetzt jeder Hinweis auf die mutmaßliche Täterin wichtig. Was können Sie uns über die Frau sagen?«
»Nicht viel«, antwortete Frau Hellmann. »Ich habe die Frau nur ein paar Mal von Weitem gesehen und nie mit ihr gesprochen. Ben hatte schon so viele Kinderfrauen, da habe ich es irgendwann aufgegeben, mich mit jeder neuen zu beschäftigen. Die Eltern haben eine schriftliche Erklärung hinterlegt, dass eine Drittperson ihr Kind abholen darf. Somit war alles rechtens. Wir haben uns nichts zu Schulden kommen lassen, das möchte ich betonen.«
»Das denkt auch niemand«, beruhigte Charlotte sie. »Hatten Sie eine Handynummer von der Frau, sodass Sie sie im Notfall hätten erreichen können?«
»Nein. Dann hätten wir die Mutter angerufen.«
»Haben Sie beobachtet, ob die Frau Kontakte zu anderen Eltern hatte? Gespräche auf dem Parkplatz oder auf dem Flur?«
Frau Hellmann lachte auf. »Das kann ich Ihnen beim besten Willen nicht sagen. Hier ist immer so viel los.« Sie schüttelte den Kopf. »Es gibt zwei Sorten von Eltern, müssen Sie wissen: Die einen haben es immer eilig,
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