Schattengeboren - Sinclair, A: Schattengeboren
Beschützerinstinkt wider. Zwar floss Magie zwischen den beiden Magiern, aber sie sagte nichts. Der ältere Magier lächelte Vladimer an, und auf seinem Gesicht zeigten sich tiefe Furchen. »Ich bin ziemlich alt, mein lieber Junge, aber wenn ich das Dossier bedenke, das Sie gewiss über mich zusammengestellt haben, vermute ich, Sie wissen das bereits. Das Leben war nicht immer so gut zu mir wie in den letzten Jahren, als es mir eine Heimat, eine Gemeinschaft, einen Sohn und eine Tochter geschenkt hat, die mich lieben. Es gibt nicht viel über die Natur der Menschen und ihr Verhalten untereinander, das ich nicht weiß. Wenn Sie glauben, ich sei nachsichtiger, liegen Sie damit vielleicht richtig. Aber ich muss Sie daran erinnern, dass es die jungen Leute wie meine Tochter sind, die Sie ebenfalls überzeugen müssen.«
»Sie sind ihr Meister, Magister Broome. Wenn Sie meine Entschuldigung annehmen, werden sie es auch tun«, erwiderte Vladimer eindringlich.
»Oje«, murmelte Farquhar Broome. »Es ist nicht ganz so, aber es stimmt, ich habe tatsächlich einen gewissen Einfluss. Sie sollten lieber meine Tochter darum bitten, aber für Sie ist ein Verrat durch einen Mann weniger schmerzhaft, auch wenn Sie noch so sehr vorgeben, Frauen nicht zu mögen.« Als Vladimer zurückschreckte, schnalzte der alte Magier mit der Zunge. »Wie ich bereits sagte, ich habe alles schon einmal gesehen. Soll ich die anderen bitten, den Raum zu verlassen?«
»Nein«, schnarrte Vladimer, »sie sollen es bezeugen.«
»Dann setzen Sie sich. Ich werde es kurz halten.«
Vladimer gehorchte und ließ sich unter Schmerzen wieder auf dem Kamin nieder. Telmaine widerstand dem Drang, von ihm abzurücken. Der Magier nahm Vladimers Kopf zwischen seine Hände und drehte das Gesicht mit einem sanften Druck. Die Magie war nicht mehr als ein Atemhauch, aber Telmaine spürte die Heilung in ihr. Dann beugte sich Farquhar Broome vor und küsste Vladimer auf die Stirn. So unerwartet die Geste kam, war sie doch weder theatralisch noch absurd. Telmaines Kehle schnürte sich zusammen. Sie erinnerte sich daran, dass ihr eigener Vater, wahrlich kein emotionaler Mensch, sie so geküsst hatte, als er ihr sein letztes Geschenk gemacht und ihr seinen Segen gegeben hatte, Balthasar zu heiraten.
»Mein lieber Junge«, sagte der Magier, »ich wage nicht, Sie zu ermahnen, sich zu schonen. Sie sind in der Lage – und bereit – Furchtbares zu tun. Aber Sie sind gleichermaßen in der Lage – und gleichermaßen bereit – ungeheuer Gutes zu tun. Welches von beidem es ist, werden Sie jeden Tag aufs Neue entscheiden müssen.« Er richtete sich auf, ließ Vladimer los und trat zurück.
Als sich Vladimer an den Arm griff, glitt sein Gehstock langsam zu Boden. Sein Gesicht und seine ganze Haltung entspannten sich, denn plötzlich fühlte er sich von seinen Schmerzen befreit. »Was für ein außerordentliches Gefühl«, murmelte er. Telmaine war sich nicht sicher, ob er bewusst so laut sprach. Sie spürte einen dezenten Stoß von Magie, und der Gehstock sprang wieder in die Höhe und lag im nächsten Moment neben Vladimers Knie.
Phoebe stand da und presste sich eine Hand auf die Lippen. Da Telmaines Aufmerksamkeit Vladimer gegolten hatte, hatte sie keinen Austausch zwischen Phoebe und ihrem Vater wahrgenommen, zu dem es aber offensichtlich gekommen war. »Fürst Vladimer«, begann Phoebe in einem gänzlich veränderten Tonfall, aber ihr Vater klopfte ihr auf den Arm. »Wir wollen das einfach ein Weilchen sacken lassen, ja?«
»Nein!«, widersprach Vladimer drängend und sprang auf. Sein Gehstock fiel abermals zu Boden, doch als Telmaine ihn ihm reichen wollte, ignorierte er es. Er sprach schnell, um jede Frage oder dargebrachtes Mitgefühl zu vermeiden: »Obwohl die Magie der Schattengeborenen ganz eindeutig stark ist, verblüfft mich die Tatsache – oder eine der Tatsachen – , wie unberechenbar ihre Taten erscheinen. Sie benutzen eine Mischung aus verborgenen Verhexungen, Nötigungen und einer abscheulichen, offenen Zurschaustellung ihrer Magie. Vielleicht sind sie tatsächlich von Natur aus so wechselhaft, aber meiner Erfahrung nach ist es riskant, seinen Feinden einfach Unberechenbarkeit statt Logik zu unterstellen. Wir müssen gründlich darüber nachdenken, und zwar schnell. War Stranhorne lediglich geografisch der erste Punkt auf ihrer Karte, oder gab es einen Grund, warum die Schattengeborenen dort ihren ersten Großangriff ausgeführt haben?«
Er zuckte zusammen,
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