Schattengeboren - Sinclair, A: Schattengeboren
Räumen mündete, in denen es noch heißer war als draußen.
Helenja, die Prinzenwitwe, war eine untersetzte Frau mit einem breiten, gut aussehendem Gesicht, auf seltsame Weise von einer ehemals gebrochenen Nase bereichert. Vielleicht war eine solch geringe Verletzung bei den südlichen Klans keiner Heilung würdig. Vielleicht war sie sogar ein Zeichen von Schönheit oder Lebenskraft. An ihrer Seite befand sich ein hagerer Mann mit einem feinen, listigen Gesicht und einer Kappe, die ihn als einen der ranghöchsten Männer des Landes auswies. Seine Kleidung entsprach zwar der lichtgeborenen Mode, doch die in sie eingearbeitete Spitze erkannte Balthasar als nachtgeborene Arbeit, deren Preis Telmaine bis auf den Pfennig genau hätte schätzen können. Balthasar ahnte, wer er war: Prasav, Isidores Cousin und größter Rivale. Die junge Frau neben ihm, deren Ähnlichkeit eine Verwandtschaft vermuten ließ, zeigte eine Miene verstohlener Faszination, auch wenn sie ihn nicht direkt ansah.
Er ließ einen Peilruf über die anderen gleiten und zwang sich dazu, genau darauf zu achten, wo sie standen, wie sie gruppiert und aufgestellt waren, um Ratgeber, Dienstboten und Gefolgsleute auseinanderzuhalten. Einige wenige erkannte er: Mistress Silberzweig mit ihrem Schreiber, der versuchte, sich so klein wie möglich zu machen. Balthasar hoffte, dass er den Mann nicht in Gefahr gebracht hatte, weil er ihn dazu gezwungen hatte, seine Aussage aufzuzeichnen. Er peilte die junge Magierin, die ihn an der Tür überprüft hatte, und mit einem Stich instinktiver Bestürzung bemerkte er zwei Mitglieder der Gruppe, die ihn auf der Straße überfallen hatten.
Helenja bedeutete ihm näher zu treten. »Das ist er?«, fragte sie.
Verunsichertes Schweigen trat ein. Dann versuchten alle, gleichzeitig zu antworten. »Ja, Mistress Helenja.« »Aber wir … «
»Ein ›Ja‹ genügt«, und an Floria gewandt fügte sie hinzu: »Warum haben Sie ihn nicht direkt zu mir gebracht?«
»Ich wurde an der Tür aufgehalten.«
»Hmpf«, sagte die Witwe, drehte sich, um sich vor Balthasar zu stellen, und musterte ihn von Kopf bis Fuß. »Ich gebe zu, ich habe etwas Beeindruckenderes erwartet.« Sie blickte zur Tür, wieder zu ihm und wies dann in eine Richtung. »Dort hinüber.«
Er tat wie geheißen. Auf ein Handzeichen von Lapaxo gesellten sich zwei Leibgardisten zu ihm. Helenja erhob keine Einwände, aber als Floria ihn ebenfalls begleiten wollte, hinderte sie diese daran. »Ich möchte, dass Sie dorthin gehen.«
Helenja zeigte auf die gegenüberliegende Seite des Raums. Floria ging hinüber, eine böse Vorahnung in ihren Zügen.
Helenja kehrte an ihren Platz in der Mitte zwischen ihnen zurück und wartete. Gemäß der Abneigung der Lichtgeborenen, Schwäche zu zeigen, standen im Raum nur wenige Stühle.
Vielleicht hätte er Florias Angebot annehmen und ein Stimulans nehmen sollen – aber Balthasar erinnerte sich noch allzu gut an die Wirkung ihrer Stimulanzien, die sein Körper nicht gewohnt gewesen war. Er riss sich zusammen.
Einige Minuten später wurden die Flügeltüren abrupt aufgestoßen. »Die Prinzessin, Mistress Helenja, Meister Prasav.« Leibgardisten und Magier traten ein, gefolgt von einer hochgewachsenen jungen Frau mit einer kunstvoll gewobenen Kappe aus Haar. Sie trat drei Schritte in den Raum hinein, blieb stehen und wandte sich ihm mit einem Ausdruck entsetzten Abscheus zu.
»Also«, sagte Helenja mit einem langen Seufzer der Befriedigung.
Die Gesichtszüge der neu hinzugekommenen jungen Frau wirkten beherrscht, obwohl ihr Adamsapfel unwillkürlich vor Übelkeit zuckte. Sie wandte sich Helenja zu. »Deine Nachricht besagte, dass du mich dringend sprechen wolltest.«
»Prinzessin«, erwiderte Helenja, »ich nehme an, du hast noch keine Kopie dieses außerordentlichen Berichtes erhalten, den der Schreiber von Mistress Tempe aufgesetzt hat. Darf ich dir den nachtgeborenen Dr. Balthasar Hearne vorstellen?«
Dies war also die Prinzessin der Thronräuber. Floria mochte ihren Mut und ihre Ehre verunglimpft haben, aber sie verlagerte nur langsam ihre Loyalität und bevorzugte es, wenn ihre Welt wohlgeordnet und alle Menschen darin berechenbar waren. Die Magierprinzessin verstieß sowohl gegen Florias Loyalität als auch gegen ihre Weltordnung, und niemand hatte diese Thronbesteigung voraussehen können. In seinem Sonar erschien ihm die Prinzessin als viel zu jung für ihre Rolle, müde, nervös und überfordert – nur eine weitere
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