Schattengeboren - Sinclair, A: Schattengeboren
dass sich die Schattengeborenen überhaupt diese Mühe machten.
Auf Befehl ihres Vaters ruhte sich Laurel in einer durch einen Vorhang abgetrennten Ecke des Ballsaals aus. Weder ihr Vater noch sie selbst hatten gewollt, dass sie in ihre Räume zurückkehrte. Stranhorne nicht, weil er genau wissen wollte, wo sie sich im Fall einer Krise befand, und sie nicht, weil hier die Gelegenheit bestand zu lauschen. Sie flüsterte ihm ihren Verdacht in Bezug auf zwei Gruppen ins Ohr, die an ihr vorbeigekommen waren, und Ishmael versprach, sie sich genauer anzusehen.
Der Baron selbst befand sich zusammen mit mehreren seiner Soldaten in der Nebengalerie. Er beugte sich über das Relief und überprüfte noch einmal die Route und den Einsatz für einen Rückzug. Ishmael umkreiste die Gruppe und achtete darauf, ob die Männer und Frauen, an denen er vorbeikam, vor ihm zurückzuckten, oder ob er irgendeine Störung in seinen Sinnen spürte, aber alle bewegten sich nur, um ihm Platz zu machen. Stranhorne hielt ihn auf, als er Anstalten machte, sich zurückzuziehen. »Regnet es wieder?«, fragte er.
»Jawohl. Verdammt, es ist fast schon Hagel.«
Der herunterhängende Mundwinkel Stranhornes verriet ihm, was das zu bedeuten hatte. Er ging mit Ishmael zur Tür. »Können wir bis Sonnenaufgang mit Hilfe rechnen?«, erkundigte er sich leise.
Eine heikle Frage, gab Ishmael zu. Falls die Verstärkung nicht kam, würde er nicht erfahren, ob der Feind sie abgeschnitten oder ob Ishmael in seiner Pflicht versagt hatte, sich auf sein eigenes Dahinscheiden und seinen Bruder auf den Machtwechsel vorzubereiten. Er dachte, er hätte gut geplant, aber er hätte sich niemals träumen lassen, dass dieser Wechsel inmitten einer solchen Notlage kommen könnte, wo ein Körnchen Sand eine ganze Maschine zu einem fatalen Stillstand bringen konnte. Und seine von Schwierigkeiten gekennzeichnete Beziehung zu Reynard war mehr als ein Sandkorn. Nur Noellene hatte recht gehabt: Er hatte Reynard einen vollständigen Bericht geschuldet, sei es persönlich oder in einem Brief – obwohl er sich recht sicher war, dass Reynard ihm kein Wort geglaubt hätte. Aber wenn die Ereignisse Reynard eines Besseren belehrt hatten, dann hätte er die nötigen Informationen gehabt.
Für Reue war es nun zu spät. Ishmael antwortete: »Den ganzen Sommer waren die Truppen in Alarmbereitschaft und haben Streifzüge über die Straßen gemacht. Reynard hat den herzoglichen Befehl und Hearnes Bericht erhalten. Wenn der Reiter den Bahnhof erreicht hat und die Telegrafenleitungen nicht gekappt wurden, dann werden sie so schnell wie möglich herkommen. Reynard ist kein Soldat und klug genug, sich nicht querzustellen. Und falls nicht, würde Noellene sich darum kümmern.«
Bei Noellenes Erwähnung lächelte Stranhorne. »Das wird sie, jawohl.« Er mochte Ishmaels Schwester, und sie ihn, auch wenn sie sich nicht genug mochten, um zu heiraten – sehr zum Verdruss von Reynards damaliger Ehefrau. Sie hatte Ränke geschmiedet, um Noellene auf respektable Weise aus Strumheller loszuwerden. Nach Reynards Scheidung hatte Noellene sich einmal mehr als Hausherrin eingerichtet, und wahrscheinlich würde sie es auch bleiben. Ungeachtet ihrer zierlichen Schönheit, ihres städtischen Auftretens und ihres teuren Geschmacks, der selbst Prinzessin Telmaines würdig gewesen wäre, verstand Noellene genauso viel von der Verteidigung der Grenzlande wie ihre Brüder. Wenn Reynard angespornt werden musste, würde sie die Sporen einsetzen.
»Also, um Ihre Frage zu beantworten, ich hoffe darauf.«
»Aber wir sollten einplanen, den Tag über auszuhalten«, beendete Stranhorne den Satz für ihn, »falls wir nicht zum Rückzug gezwungen werden. Gibt es irgendeinen Hinweis auf Schattengeborene – im Haus?«
»Ehrlich gesagt, es ist schwierig für mich, das zu erkennen, aber ich bin dabei. Wo ist Mycene?«
Mycene und seine Männer befanden sich im Innenhof, um die Truppe zu verstärken, die während der schlimmsten Angriffswelle das Haupttor bewacht hatte. Die Schattengeborenen hatten sich auch dort die Anführer vorgenommen und waren dabei erfolgreicher gewesen als auf dem Dach. Die Verteidiger hatten nicht schnell genug erkannt, dass die Schattengeborenen nur zu großer Gewalt, nicht aber zu taktischem Denken fähig waren. Wahrscheinlich hatte Stranhorne es Mycene und seinen Männern zu verdanken, dass das Nordtor unversehrt geblieben war. Diese Vorstellung ist mir weniger unbehaglich als bisher, dachte
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