Schattengefährte
sein und würden ihre Flucht verhindern. Ihre Unerfahrenheit bezahlte sie mit schmerzenden Flügelenden, denn die Nische war eng, und sie hatte die Schwingen allzu weit ausgebreitet.
Eilig trippelte sie durch die Maueröffnung bis zum Fenster, das jetzt wieder mit einem Gitter aus Eiszapfen verschlossen war. Ein paar gut gezielte Schnabelhiebe zerbrachen jedoch dieses letzte Hindernis, und nun lag das weite, graue Tal vor ihr, in das Fandur hinausgeflogen war.
Etwas Seltsames geschah mit ihr, als sie hinausblickte. Sie verspürte eine große Sehnsucht, die Schwingen zu entfalten und sich der Luft anzuvertrauen. Was konnte es Schöneres geben, als den Wind mit den Flügeln zu peitschen, sich von ihm emporheben zu lassen, seinen kühlen, vibrierenden Strom unter sich zu spüren, ihn zu gewagtem Spiel herauszufordern. Es drängte sie, über die eisige Ebene zu gleiten, bis die dunklen Linien am Horizont zu hohen Bergen wuchsen, an deren Hängen winterkahle Bäume dem Raben einen guten Platz zum Ausruhen boten.
Die Verwandlung schien tiefer zu gehen, als sie geglaubt hatte, denn dieser Wunsch war so heftig in ihr, dass sie nicht einmal mehr den Abgrund fürchtete, der sich direkt vor ihr auftat.
Ohne sich dessen bewusst zu sein, trippelte sie bis ans äußerste Ende der Mauerkante, hockte auf den Resten der abgebrochenen Eiszapfen und entfaltete die Flügel.
Das ist gefährlich, dachte sie, dann spürte sie schon, wie die eisige Kälte des Abgrunds ihren gefiederten Bauch streifte. Sie flog, segelte mit weit gespannten Schwingen über das Tal, den Blick nach vorn auf die weit entfernt liegende Bergkette gerichtet. Panik erfasste sie, denn sie fürchtete, die Kraft ihrer Arme könnte die Flügel nicht lange ausgebreitet halten, sie begann zu zittern, der Flug wurde unruhig, und zu ihrem Entsetzen sank sie immer tiefer hinab.
Mit den Flügeln schlagen, sagte die Räbin in ihrem Inneren, und Alina, die Fee, befolgte den Rat. Es war lange nicht so anstrengend, wie sie geglaubt hatte, sie flatterte hoch hinauf und bemerkte erst nach einer kleinen Weile, dass sie des Guten zuviel getan hatte. Langsam segelte sie nun dahin, störte sich nicht daran, dass sie ein wenig tiefer sank, gewann flügelschlagend wieder an Höhe und übte sich darin, Kreise zu fliegen. Langsam machte die Sache ihr Vergnügen. Es war ganz einfach, man verlagerte das Gewicht, steuerte ein wenig mit den Schwanzfedern, und schon zog man die schönsten Kurven. Sie wurde nun mutiger, wagte sich tiefer hinunter, zischte dicht an den starren Baumästen vorbei, berührte fast die Spitzen der eisglänzenden Felsen, schwang sich wieder empor und stieß einen hellen Freudenruf aus, der aber nur als ein heiseres Krächzen aus ihrer Kehle drang.
Es war klug, hier in dem windstillen Tal ein wenig zu üben, denn drüben in den schneebedeckten Bergen pfiff der Wind über die Felsen, man konnte sehen, wie der pulvrige Schnee aufgewirbelt und in dichten Schleiern übers Gebirge geblasen wurde. Wenn sie nach Hause ins Hügelland fliegen wollte, dann würde sie gegen Kälte und Sturm ankämpfen müssen, besser, sie zog hier noch ein paar schnittige Kreise und stieg ordentlich hoch hinauf, stieß vielleicht auch einmal hinab, um sich dann mit Hilfe der Flügel wieder zu fangen, damit sie das rechte Gefühl fürs Fliegen bekam. Den Rest würde die Rabennatur erledigen, die seit der Verwandlung immer heftiger von ihr Besitz ergriff.
Es war geradezu berauschend, sich mit der Kraft der Flügel in die Luft emporzuarbeiten, immer höher hinaufzusteigen, den feuchten Wolkendunst zu spüren, in den sie eintauchte, und erst als sie das Tal unter sich im grauen Nebel sah, fürchtete sie, sich in der dichten Dunstglocke der Wolken zu verlieren, und stieß hinab. Es sauste in ihren Ohren, als sie mit halb angezogenen Flügeln wie ein Pfeil abwärtsglitt – tiefer, noch tiefer, so tief, dass sie fast die Felsen streifte – und dann den Sturzflug mit weit gespannten Schwingen abfing, so dicht über dem Boden, dass ihr selbst schwindelte.
Ihr Rabenherz klopfte wild vor Freude über den gelungenen Flug, sie gewann einen verwinkelten Baumast, klammerte sich mit den Krallenfüßen fest und keuchte vor Anstrengung. Fast konnte sie Fandur jetzt verstehen, der jeden Tag aus der Burg in die Weite hinausflog, denn es war großartig, ein Rabe zu sein. Wenn sie erst wieder im Hügelland war, würde sie dieses Rabenkleid gut aufbewahren, denn es war ein großer Schatz, für den sie nicht
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