Schattengefährte
Federn und Füße begannen schon, auf dem verharschten Schnee anzufrieren. Mühsam tat sie ein paar Schritte, nahm allen Mut zusammen und breitete die Schwingen aus. Ein heftiger Schmerz fuhr durch Arme und Körper, und sie fürchtete schon, der Sturm habe ihr die Flügel gebrochen, doch sie überwand die Pein und flatterte vom Boden auf. Wie unendlich schwer war es, mit müden, zerschundenen Schwingen auch nur ein wenig Höhe zu gewinnen! Hart am Flussufer plumpste sie wieder in den Schnee, hockte keuchend auf der Stelle und erblickte zu allem Überfluss ihr eigenes Bild auf der spiegelglatten Eisfläche. Wie schrecklich sie aussah! Was für ein breiter, hässlicher Schnabel! Sie besah sich von der Seite und stellte schaudernd fest, dass es am Schnabelansatz einen Höcker gab – oder waren das nur ein paar schwarze Federchen, die sich sträubten? Und diese scheußliche nach unten gebogene Schnabelspitze, hart und gefährlich, zum Hacken und Herausreißen gemacht.
Auf keinen Fall wollte sie den Rest ihres Daseins eine Räbin bleiben. Und vom Fliegen hatte sie vorerst auch genug.
Sie trippelte ein Stück zurück und versuchte den Abflug ein zweites Mal, jetzt mit aller ihrer Kraft und dem verzweifelten Entschluss, auf keinen Fall im Fluss zu landen, denn auf der glatten Eisfläche würde sie keinen weiteren Start unternehmen können. Dieses Mal gelang es ihr, sich vom Boden zu erheben und in der Luft zu bleiben, doch es war so anstrengend, dass sie fürchtete, nicht einmal die ersten Hügel zu erreichen. Kaum aber hatte sie den gläsernen Fluss überquert, da trug sie ein sanfter, warmer Wind voran, hob sie über die herbstlich bewaldeten Hügelkuppen ohne dass sie mit den Flügeln schlagen musste, und sie brauchte nur leicht ihr Gewicht zu verlagern, um die Richtung zu ändern. Erleichtert vertraute sie sich dem Abendhauch an, sah die Landschaft unter sich vorübergleiten, erkannte die Dörfchen und Felder wieder, auch die dunklen Flecken, die die feurigen Drachenzungen hinterlassen hatten, und die jetzt in der Dämmerung langsam mit dem matten Grün und Braun der Äcker verschmolzen.
Die königliche Burg auf dem Hügel inmitten des Landes wäre mit Feenaugen leicht zu sehen gewesen, doch die Räbin erkannte in der abendlichen Dunkelheit nur die Zinnen und den unteren Teil des Wohngebäudes, die von den Fackeln auf dem Burghof angeleuchtet wurden. Sie legte sich auf die Seite, um hinüber zur Quelle im Haselhain zu fliegen, doch seltsamerweise schien der Wind, der sie so freundlich bis hierher getragen hatte, andere Absichten zu haben. Eine heftige Bö drückte sie tief an den Boden, so dass ihre Füße eine Weile über das feuchte Gras schleiften, graue Nebelschwaden wehten ihr entgegen, hüllten sie ein und nahmen ihr alle Sicht. Unwillig streckte sie die Füße aus, um im Gras zu landen, doch der Wind trug sie weiter, ließ sie dicht über dem Boden schweben, lautlos, ohne einen Flügelschlag, von Nebeln um-wölkt.
Der Wind, der ihr Helfer war.
Der Instinkt der Räbin meldete sich, spürte die Nähe der Artgenossen, und dieses Mal waren sich Räbin und Fee darin einig, dass sie in höchster Gefahr waren. Schwingen rauschten über ihr, kräftig und schwer, Schatten durchschnitten den feuchten Dunst und verschwanden wieder, der Luftzug ließ wirbelnde Nebelgestalten entstehen, die sich wie graue Geister über die Räbin neigten. Sie waren ihr also gefolgt, Fandur hatte die Rabenkrieger nur für kurze Zeit aufhalten können. Im Schneesturm hatten sie ihr Opfer aus den Augen verloren, doch am Ufer des gläsernen Flusses war es ihnen ein Leichtes gewesen, die schwarze Räbin im hellen Schnee zu entdecken. Angst erfasste sie – würden Nebel und Dunkelheit sie verbergen? Rabenaugen sahen auch in mondhellen Nächten scharf – wenn der Nebel verwehte und der Mond aufging, würde es um sie geschehen sein.
»Etain«, flehte sie innerlich. »Etain hilf mir. Bring mich zu deiner Quelle und verbirg mich, wie du es schon einmal getan hast.«
Der Nebel zeigte keine Neigung, sich aufzulösen, er schien im Gegenteil nur dichter zu werden, Feuchtigkeit legte sich auf ihr Federkleid, kleine Tröpfchen bildeten sich auf dem Schnabel. Unentwegt glitt sie über den Boden dahin, streifte kratzendes Buschwerk, sah dürre Halme unter sich, Steine, dunkle Fahrrinnen und Hufspuren im nassen Lehmboden. Über ihr war das Geräusch der dunklen Rabenschwingen, ab und zu ein tiefer, schnarrender Ruf, der von irgendwoher beantwortet
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