Schattengefährte
Ort, an dem man weder Sonne noch Mond sah. Der einzige Zugang zu diesem Gefängnis war das viereckige Loch, durch das man die Gefangenen in die Tiefe ließ und das mit einem geschmiedeten Gitter verschlossen war.
»Was sorgst du dich?«, meinte Macha leichthin. »Iss lieber etwas von diesen Speisen, damit du bei Kräften bleibst. Der Rabenkrieger wird sich verwandeln, sobald er zu sich gekommen ist. Dann flattert er auf und schlüpft durch das Gitter. Die dummen Wächter dort oben werden ihn nicht erwischen, er wird zu einer der Fensternischen im oberen Teil des Turmes hinausfliegen, und fort ist er.«
Diese Vorstellung beruhigte sie ein wenig, wenn sie auch Sorge hatte, dass Fandur schlimme Verletzungen davongetragen haben könnte. Natürlich, er würde keine Mühe haben, sich aus dieser Lage zu befreien. Dann würde er als Rabe davonschweben und in der Nacht zu ihr zurückkehren.
»Wir müssen das Fenster offen lassen, Macha.«
»Damit er dich auf seinem Rücken davonträgt«, murrte die alte Magd. »Das wird deiner Mutter Etain nicht gefallen. Sie war zornig, als der Rabenkrieger dich aus dem Hügelland fortbrachte.«
»Was stellt sie sich vor? Will sie etwa, dass ich Nemed heirate?«
Macha hielt ihrem Schützling eine Schale mit Gebäck vor die Nase, doch Alina schob sie ärgerlich zurück. Fiel Macha in dieser schlimmen Lage nichts anderes ein, als sie zu füttern?
»Etain will, dass du Königin des Hügellandes wirst. Du allein sollst das Land beherrschen, kein Mann soll die Macht mit dir teilen, denn du besitzt den Feenbogen.«
»Ich wünschte, ich besäße ihn«, murrte Alina. »Aber selbst dann könnte ich nicht das königliche Heer anführen, denn ich bin kein Mann und weiß nicht mit dem Schwert zu kämpfen. Etain sollte das eigentlich wissen.«
Macha zuckte die Schultern – sie war die treue Dienerin der unglücklichen Fee und überbrachte nur, was ihre Herrin ihr sagte. Auch wenn ihr manchmal schien, dass Etain in ihrem Zorn über das Ziel hinausschoss.
»Mag es meiner Mutter gefallen oder nicht«, meinte Alina trotzig. »Ich liebe Fandur, und wenn er heute Nacht an mein Fenster kommt, dann werde ich ihm folgen, ganz gleich, wohin er mich trägt.«
»Und uns alle, deine Eltern, deine Freunde – die willst du hier zurücklassen?«, rief Macha vorwurfsvoll. »Willst du, dass Nessa deinen Vater mit ihren Tränken tötet? Soll sie mit ihrem Bruder das Hügelland beherrschen? Dann wird es deinen Freunden schlimm ergehen.«
Alina stöhnte auf und schlang die Arme um die angezogenen Knie. Nein, das wollte sie nicht, denn damit würde sie eigensüchtig und gewissenlos handeln.
»Was soll ich tun, Macha?«, jammerte sie unglücklich. »Ich liebe Fandur mehr als mein Leben. Aber hier können wir beide nicht bleiben, denn Nemed und Nessa sind allzu mächtig.«
»Ich weiß es auch nicht«, gab die alte Magd bekümmert zurück. »Ich weiß nur, dass es schon dunkel wird und du jetzt entscheiden musst, ob du dein Fenster öffnen willst oder nicht.«
Sie klappte den Deckel der Truhe zu, zog die zerwühlten Decken und Polster auf Alinas Lager ein wenig zurecht und wünschte ihrer jungen Herrin dann eine gute Nacht. Alina umarmte ihre alte Magd zärtlich und schmiegte ihren Kopf an ihre Brust – doch dieses Mal wusste Macha ihr weder Trost noch Rat zu geben, sie strich nur sanft über das leuchtende Haar des Feenkindes und seufzte bekümmert. Dann klopfte sie gegen die Pforte, damit die Wächter sie hinausließen. Nach ihrer Gewohnheit würde sie sich vor der Tür ihres Schützlings zur Ruhe legen.
Alina öffnete das Fenster und spürte die kühle, feuchte Abendluft auf den heißen Wangen. Nebel mischten sich in die Dämmerung, unten im Hof hatte man Fackeln entzündet, die in eisernen Halterungen an den Mauern befestigt waren. Der untere Teil des mächtigen Turms wurde von den rötlich flackernden Lichtern angeleuchtet, auf den graubraunen Mauersteinen schienen sich Schatten zu bewegen, als glitten dort mächtige Schwingen vorüber.
Vor der Turmtreppe hockten mehrere Wächter herum, es waren junge Bauernburschen, die sich fröstelnd in ihre Umhänge gewickelt hatten, und es war deutlich zu sehen, dass ihnen die seltsamen Schattenbilder nicht gefielen.
Ist Fandur vielleicht gar schon davongeflogen, überlegte sie besorgt. Flattert er hier irgendwo herum und wartet darauf, dass ich ihn einlasse?
Doch ihre scharfen Feenaugen konnten nur einige Fledermäuse ausmachen, die lautlos auf zarten Flughäuten
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