Schattengefährte
durch die Nacht glitten. Auf dem Dach des Torgebäudes hockten Raben, eng aneinandergedrängt, die Köpfe unter die Flügel gesteckt. War Fandur unter ihnen?
Sie verließ das offene Fenster und stellte die Lampe zurecht, dann setzte sie sich auf ihr Lager, zog eine Decke über die Knie und wartete mit klopfendem Herzen. Es war wie damals, als er sie in der Nacht besuchte, mit leichten blauschwarzen Rabenschwingen zu ihr geflogen kam, stets ein wenig besorgt, dass jemand ihn entdecken könnte. Vor wem hatte er sich eigentlich so sorgfältig verborgen? Natürlich vor seiner scheußlichen Geliebten, der Räbin Morrigan.
Der Gedanke versetzte ihr einen kleinen Stich. Der listige Bursche hatte sich tagsüber bei seiner Geliebten aufgehalten und die Nächte mit ihr, Alina, verbracht. Gewiss hatte Etain das gewusst, deshalb war sie auch zornig gewesen. Alina seufzte tief – es half nichts, sie liebte Fandur, auch wenn er dieser Liebe nicht wert war.
Die sitzende Stellung ermüdete sie auf die Dauer, auch fröstelte sie trotz der Decke, also legte sie sich zurück, kuschelte sich in die Polster und starrte zum offenen Fenster. Er würde doch kommen, oder? Er würde nicht etwa davonfliegen, enttäuscht über den unglücklichen Ausgang seiner Werbung, und sie verlassen? Hatte er nicht gesagt, dass er sie liebte? Ach, dass man doch niemals wissen konnte, was dieser Bursche als nächstes unternahm!
Das Lampenlicht begann zu flackern, und sie stand auf, um ein wenig Öl nachzugießen. Langsam wuchs das kleine Flämmchen wieder an, sein Schein breitete sich aus und fiel auf das Tischlein, ließ den silbernen Handspiegel blinken und das Innere der Druse aufblitzen. Neben dem Spiegel lag das kleine Buch, das Ogyn ihr als Willkommensgeschenk hatte überbringen lassen und das sie achtlos auf den Tisch gelegt hatte. Der Einband, der im Tageslicht schwarz erschienen war, hatte jetzt einen bläulichen Schimmer, und die goldfarbigen Ornamente fügten sich zu seltsamen, immer neuen Gestalten. Fasziniert starrte sie darauf – steckte in diesem alten Buch vielleicht gar ein Zauber? Sah sie nicht auf blauschwarzem Grund die goldenen Umrisse eines Vogels? Sie schärfte den Blick. Der Vogel hatte das Gesicht eines Menschen, langes Haar wehte, dunkle, schreckliche Augen blickten sie an, dann verschwand das Bild, und sie sah eine bergige Landschaft, spitze Felsen ragten empor, um die kahlen Gipfel kreiste ein Vogelschwarm. Es waren Raben, sie erkannte die gezackten Flügel, die fächerförmig ausgebreiteten Schwanzfedern, die langen, spitzen Schnäbel.
Noch einmal schaute sie zum Fenster hinüber – kein Fandur ließ sich blicken. Neugierig griff sie nun nach dem Buch, sie liebte die alten Folianten nicht, aber dieser schien ein Geheimnis zu bergen und würde ihr die Wartezeit verkürzen.
Die goldene Buchschließe sprang auf, kaum dass sie das Buch in der Hand hielt, und die Pergamentseiten blätterten sich auf. Da sie keine Lust hatte, das Buch von vorn bis hinten durchzulesen, steckte sie einfach den Finger irgendwo zwischen die Seiten.
Eine farbige Zeichnung leuchtete, sie zeigte eine blutige Schlacht. Ritter kämpften mit blanken Schwertern gegeneinander, reiterlose Pferde flohen, Verwundete sanken zu Boden, wo bereits ihre toten Kampfgefährten lagen, vielen fehlten Gliedmaßen, Köpfe waren vom Rumpf getrennt. Unter den Kriegern sah man geflügelte Wesen, blauschwarze Schwingen streckten sich aus schimmernden Kettenpanzern, Krallenfüße ragten aus den Beinschienen. In der Mitte des Bildes stand die grässliche Morrigan, nackt am ganzen Leib, das Haupt von schwarzem Haar umweht, gierig nach dem Blut und den dampfenden Leibern der Männer.
Wie ekelhaft, dachte sie und wollte das Buch zuschlagen. Lässt dieses Rabenweib mich niemals in Ruhe? Wozu musste Ogyn mir dieses blöde Buch geben?
Doch dann fiel ihr Blick auf die Verse, die unter dem Bild geschrieben standen, und sie begann zu lesen.
Die Morrigan ist es, die Göttin der Schlacht
Aus Kampf und Gemetzel erwächst ihre Macht
Aus blutigem Rausch zieht sie ihre Kraft
Aus blutigem Rausch, der ihr Wollust verschafft.
Verwirrt ließ Alina das Buch sinken. Konnte sie glauben, was dort geschrieben stand? Diese widerwärtige Person war nicht einfach nur eine Rabenkriegerin – sie war eine Göttin.
Blauschwarze Krieger sind ihre Vasallen
Wüten im Kampf nach der Herrin Gefallen
Entfachen den Rausch, vergießen das Blut
Befriedigen Morrigans brünstige Glut.
Wie grässlich!
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