Schattengefährte
Diese scheußliche Göttin trieb es mit allen ihren Rabenkriegern, wann immer es ihr beliebte. Jetzt begriff sie auch, dass Fandur keine Wahl gehabt hatte – sie war seine Herrin und er ihr Vasall. Er hatte ihr zu Willen sein müssen, und das wohl seit Anbeginn der Zeit. Wieso hatte er ihr das nicht erklärt? Wieso schwieg er sich immer über alles aus?
Wehe dem Krieger, der sich widersetzt
Die ehernen Regeln der Herrin verletzt
Sie nimmt ihm die Waffen, die Wehr und das Kleid
Sie nimmt ihm der Göttin Unsterblichkeit.
Das Buch fiel zu Boden, denn Alina war entsetzt aufgesprungen. Sie stürzte zum Fenster und starrte auf die massige Form des Turms, die inzwischen nur noch von wenigen Fackeln angeleuchtet wurde. In einer der schmalen Fensternischen war schwacher Lichtschein zu erkennen, in diesem Turmraum war die Öffnung des Kerkers, neben dem vergitterten Loch saßen vermutlich ebenfalls mehrere Wächter, obgleich kein normaler Mensch an den steilen, meterhohen Wänden des Verlieses emporklettern konnte, um das Gitter von unten aufzustoßen.
Sie nimmt ihm die Waffen, die Wehr und das Kleid!
Fandur hatte kein Rabenkleid mehr, er konnte sich nicht mehr verwandeln. Und was noch viel schlimmer war: Er hatte auch seine Unsterblichkeit eingebüßt, wenn Nemed das erst herausbekam, dann würde er Fandur töten.
Zahl meiner Herrin den höchsten Tribut.
Das waren Fandurs Worte gewesen, und jetzt erst begriff sie ihren tatsächlichen Sinn. Fandur hatte von Anfang an gewusst, auf welch gefährliches Spiel er sich einließ, wenn er seiner Herrin untreu wurde. Zitternd wandte sie sich vom Fenster ab und suchte nach ihrem Mantel, zerwühlte aufgeregt das Lager, fürchtete schon, Macha habe ihn fortgetragen und fand den Feenmantel endlich zusammengerollt in der Truhe.
Fandur hatte alles für sie aufgegeben – nun war es an ihr, ihm aus der Not zu helfen.
Kapitel 28
Das Federkleid hatte sich zu einem flachen Bündel zusammengelegt, kein Fläumchen hing an dem Mantelstoff fest, kein Federchen hob sich ihr entgegen, als sie den Mantel auseinanderfaltete. Dennoch war sie besorgt, denn es konnte gut sein, dass die eine oder andere Feder verlorengegangen war.
Doch das war jetzt leider nicht mehr zu ändern. Viel bedenklicher war die Tatsache, dass sie immer noch nicht wusste, wie sie die Verwandlung wieder rückgängig machen konnte. Die verflixte Hexe hatte es fertiggebracht, denn in ihrer Höhle war das Rabenkleid letzte Nacht von ihr genommen worden. Aber wie? Durch welchen Zauber? Sollte sie vielleicht in stockdunkler Nacht zur Höhle fliegen, um die Alte danach zu fragen?
Ein Windhauch fuhr durch das offene Fenster in ihr Gemach, und sie hörte ein leises Knistern – die Pergamentseiten des Buches hatten sich bewegt. Ob dort Hilfe zu finden war? Wenn ja, dann würde sie nie wieder ein böses Wort gegen alte Folianten sagen, auch wenn sie noch so schwer und staubig waren.
Sie kniete sich auf den Boden und blätterte in dem Buch herum, fand allerlei bunte Malereien und Verse, wendete ungeduldig Seite um Seite und war bald kurz davor, ihren guten Vorsatz aufzugeben, da stieß sie auf eine kleine Zeichnung. Sie stellte eindeutig jenes schmale Bündel dar, in das sich das Rabenkleid zusammenlegte, wenn es eine Weile nicht benutzt wurde.
Der Name der Göttin verzaubert den Krieger
Bedeckt ihn mit blauschwarzem Rabengefieder
Ein Vogel am Himmel, der Göttin nun gleich
Ein pfeilschneller Flieger in Morrigans Reich.
Das war nichts Neues – sie hatte längst begriffen, dass man den Namen dieser scheußlichen Göttin aussprechen musste, um die Verwandlung herbeizuführen. Und weiter?
Der Name des Kriegers löset den Bann
Verwandelt den Raben zurück in den Mann
Wie Bronze die Haut und geschmeidig der Leib
So dient er der Göttin, der Räbin, dem Weib.
Oh, wie sie diese Göttin hasste! Jetzt war sie so schlau wie vorher. Der Name des Kriegers? Aber sie war schließlich kein Krieger, und in einen Mann wollte sie sich schon gar nicht verwandeln. Offensichtlich hatte niemand vorgesehen, dass auch eine Fee sich mit Hilfe des Rabenkleides verzaubern konnte. Seufzend klappte sie das Buch zu, sie hatte es ja geahnt, in solchen Folianten stand lauter Unsinn.
Sie würde es eben wagen – vielleicht wusste ja Fandur Rat. Unangenehm war nur, dass sie jetzt den Namen dieser grässlichen Person nennen musste, wenn auch nur in Gedanken.
Vorsichtshalber löschte sie die Flamme in der kleinen Laterne, dann lehnte sie sich aus
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