Schattengefährte
dem Fenster und sah in den Burghof hinunter. Dort brannten nur noch zwei Fackeln, von den verkohlten Stümpfen der anderen stiegen feine Rauchfäden auf, die nach Pech und Baumharz rochen. Die Wächter saßen unverdrossen vor der Turmtreppe und schwatzten leise miteinander, dann stand einer von ihnen auf, um eine frische Fackel zu entzünden.
»Da könnt ihr lange leuchten – ihr werdet mich dennoch nicht sehen, ihr Dummköpfe«, murmelte sie.
Das Federbündel am Boden regte sich sacht, als sie sich dicht daneben aufstellte, es schien sich aufzuplustern, und sie spürte das Kitzeln der kleinen Fläumchen an ihren Fußknöcheln. Noch einmal atmete sie tief ein und aus, versuchte, nicht daran zu denken, dass sie gleich einen langen Schnabel und krumme Krallen haben würde, dann hob sie langsam die Arme.
»Morrigan … Morrigan … Morrigan …«
Als sie das Wirbeln um sich herum spürte, schloss sie die Augen und bemühte sich, dem Schwindel zu trotzen, der sie nun erfassen würde. Doch dieses Mal gelang die Verwandlung leichter, auch der Schmerz war erträglich, nur das schreckliche Gefühl, in sich zusammenzuschrumpfen, als pressten von allen Seiten starke Fäuste auf sie ein, musste überwunden werden. Sie tröstete sich mit dem Gedanken, dass sie nun zwei starke Schwingen besaß und zudem schon eine geübte Fliegerin war.
Dennoch war es nicht gerade angenehm, sich als kleine Räbin auf dem Fußboden wiederzufinden, die Krallen liebten den glatten Untergrund nicht, und sie stieß sich den Schnabel an einem Bettpfosten. Schlimmer war die Dunkelheit – verdammte Rabenaugen! Der schwache Schein, der vom Hof heraufdrang, war für Feenaugen hell wie das Tageslicht, die Räbin torkelte unsicher umher, erkannte weder Bett noch Truhe, nur das Fenster war deutlich, denn draußen glomm rötliches Fackellicht. Unsicher flatterte sie auf, prallte gegen das Tischlein und erschrak, als die daraufliegenden Gegenstände herunterprasselten. Wie ärgerlich – hoffentlich kam keiner der Wächter draußen vor ihrer Pforte auf die Idee, nach dem Rechten zu sehen.
Mit Mühe erreichte sie das Fenstersims und starrte hinaus. Wie sie befürchtet hatte, konnte sie unten im Hof nur undeutliche Lichtflecken erkennen, die Gestalten der Wächter verschwanden vollkommen in der nebligen Dunkelheit, und auch die kleine Maueröffnung im Turm war zu einem verwaschenen Lichtlein geworden. Wenn wenigstens der Mond am Himmel auftauchen würde, dann wäre die Sicht weitaus besser gewesen, doch der Himmel war mit dichten Wolken verhangen, die die Gestirne der Nacht verhüllten.
Sie würde eine Runde über den Hof fliegen, um sich besser zurechtzufinden, denn die Maueröffnung war winzig klein, wenn man sie nicht zielgenau anflog, konnte man sich die Flügel brechen. Mutig breitete sie die Schwingen aus und überließ sich der Luft, spürte, wie sie schwebte, und das Herz der Räbin klopfte vor Begeisterung. Ein wenig nach links, dann eine Kurve, nur nicht zu dicht an den schlafenden Raben auf dem Torgebäude vorbeigleiten, lieber auf dem Pferdestall landen und ein wenig ausruhen. Das ging besser, als sie gedacht hatte, kein einziges Federchen fehlte an ihrem Rabenkleid, vor allem keine Schwungfeder. Der Geruch von Küchenabfällen stieg ihr in die Nase, er erschien ihr verführerisch, und sie musste die Räbin in ihr zur Ordnung rufen. Dann entdeckte sie im Wohngebäude zwei beleuchtete Fenster und erschrak. Das obere Fensterchen gehörte zur Studierstube, dort war Ogyn, der arme Kerl, wohl rastlos beschäftigt, den befohlenen Drachenzauber zu suchen. Das untere Fenster war breit und sehr hell, als habe man in diesem Raum viele Kerzen entzündet, Schatten bewegten sich, gestikulierten, gingen auf und ab. Dort befanden sich Nessas Gemächer, die Geschwister hatten sich noch nicht zur Ruhe gelegt, sie schienen zu streiten oder aufgeregt die Lage zu besprechen. Nemed war nicht zu trauen, ganz sicher überlegte er, wie er sich des gefangenen Rabenkriegers auf schlaue Art entledigen könnte, vielleicht sogar noch in dieser Nacht.
Die Zeit drängte, zumal sich jetzt ein kräftiger Wind erhob, der draußen vor der Burg in den Ebereschen wühlte und die Nebelschwaden über den Hof blies. Er schüttelte auch die Linde im Burghof, riss an ihren Zweigen, und man hörte das Geräusch von welkem Laub, das über das Pflaster geweht wurde. Sie stieß sich vom Dachfirst ab und spürte sogleich, dass der Wind ihr Helfer war, denn er trieb sie direkt auf die
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