Schattengefährte
hast du nicht die Macht!«
»O doch! Meine Liebe gibt mir diese Macht, denn sie ist stärker als die Kraft der Göttin. Liebe besiegt die Dunkelheit, Liebe lässt hartes Eis zu Wasser werden, Liebe kann den toten Fels zum Leben erwecken!«
»Du dummes Kind!«, schrie die Hexe in hellem Zorn.
Ein Blitz durchzuckte die Höhle, flackernde Fünkchen spielten in den Felswänden, woben Lichtnetze an der steinernen Höhlendecke. Alina schrie auf vor Entsetzen, denn mitten in den flimmernden, blitzenden Flämmchen wurde eine Gestalt sichtbar. Grün war ihr Kleid und silbern das lange Haar, weiß ihre Haut, und in ihren Augen sah Alina ihr eigenes Bild.
Nur für einen winzigen Augenblick überließ sich Etain, Mirdirs Tochter, ihrem Zorn, dann sank das Lichterspiel in sich zusammen, und tiefe graue Dämmerung blieb zurück.
»Mutter«, flüsterte Alina. »Mutter …«
Sie bebte am ganzen Körper, Tränen stürzten aus ihren Augen, ohne dass sie sich dessen gewahr wurde. Etain war die Hexe, die Hexe war Etain. Zärtlich und voller Liebe an der Quelle bei den Haselsträuchern, eine graue Wölfin im Kampf um ihr Kind in der Finsternis des Waldes, kalt und steinern in ihrem Unglück, glühend wie eine Flamme in ihrem Zorn. Alles dies war Etain, die Fee. Ihre Mutter und ein Teil ihrer selbst.
»Dann geh und beweise es mir!«, sagte Etain müde.
Es klang zärtlich und voller Leid, als sähe sie ein Unheil voraus, das ihr das Liebste auf Erden nehmen würde, und das sie doch nicht abwenden konnte.
Eine goldene Sehne schimmerte in der Dämmerung, die schön geschwungene Form des Bogens zeichnete sich ab, dazu der Köcher mit den weiß gefiederten Pfeilen. Alina empfing die Zauberwaffe aus der Hand ihrer Mutter, und während ihre Finger den ledernen Griff des Bogens umschlossen, spürte sie eine Berührung auf ihrer Stirn, zart und flüchtig, wie der Kuss einer Fee.
Kapitel 31
Niam lief ihr entgegen, als sie aus dem Höhleneingang trat, beschnupperte den Bogen und rieb dann schnaubend den Hals an der Schulter ihrer Herrin. Es war eine Aufforderung, in den Sattel zu steigen, so als wisse das kluge Tier, welche Aufgabe vor ihnen lag.
Mit raschen Hufen durchquerte die Stute den Wald und trabte energisch voran, als sie das Wiesenland erreichten, wo kein Baum und kein Zweig sie vor feindlichen Blicken verbarg. Spürte Niam, dass ihre Herrin nun nicht mehr wehrlos war, wusste die Stute, welche Zaubermacht ihnen zur Seite stand? Alina hatte Bogen und Köcher an den Sattel gehängt, herausfordernd blitzte die goldene Sehne, auch für Rabenaugen in der mondhellen Nacht gut sichtbar. Nur die Morrigan wusste, wo Fandur zu finden war, sie musste die Göttin anlocken, um ihr das Geheimnis zu entreißen.
Niam wurde nicht müde, sie lief leichtfüßig und setzte ihre Hufe so leise, dass nur selten ein Nachttier durch Ross und Reiterin aufgescheucht wurde. Ein sanfter Nebel stieg aus den Wiesen, der Vorbote der Morgendämmerung, und das braune Fell der Stute erschien Alina heller als sonst, als hätte der weißliche Dunst das Haar der Stute umhüllt. Alina schüttelte ärgerlich den Kopf, denn sie wusste, dass Etain ihr den schützenden Nebel schickte. Sie wollte keinen Schutz, sie brauchte ihn nicht, je eher sich die Morrigan ihr zeigte, desto früher würde sie ihr Ziel erreichen.
Die düsteren Umrisse der Burg wurden sichtbar, die gezackten Zinnen der Mauern, das breite, schindelgedeckte Wohngebäude, der trutzige Turm, in dessen Verlies Fandur gefangen gewesen war. Nebel umwehten die kahlen Ebereschen, sie woben ihre dünnen Zweige ineinander und glichen einer Reihe angeschlagener Kämpfer, die sich beharrlich aneinander festklammerten, um nicht zu stürzen.
Für einen kurzen Moment verspürte Alina plötzlich Angst vor der gewaltigen Aufgabe. Sehnsucht nach ihrem kleinen Schlafgemach überkam sie, nach den vertrauten Dingen, den weichen Polstern und Machas liebevoller Nähe. Vielleicht war es klüger, zurück in die Burg zu reiten, um sich dort auszuschlafen und zu essen, denn sie hatte während der vergangenen Nächte nicht viel Schlaf und noch weniger Nahrung bekommen. Doch sie widerstand der Versuchung, denn in ihrem Herzen brannte die Sorge um Fandur. Nein, er hatte sich nicht unterworfen, er würde sich zu seiner Liebe bekennen, sie glaubte fest an ihn. Wenn er aber der Morrigan getrotzt hatte, dann war er in größter Not, und sie durfte keine Zeit verlieren.
Niam schien ihre Gedanken zu kennen, denn auch sie zeigte keine
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