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Schattengefährte

Schattengefährte

Titel: Schattengefährte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Megan MacFadden
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»Die Herrin selbst hat ihn in die Leinwand eingenäht, sie hat lange dafür gebraucht, sieh nur, wie klein ihre Stiche sind.«
    In der Tat waren die Nähte so fein, dass Alina fast Hochachtung vor Nessa bekam. Sie musste Wochen und Monate gesessen haben, allein die Ausdauer war bewundernswürdig.
    Die Frauen hatten die Fenster weit geöffnet, um so viel Sonnenlicht wie möglich in den Raum hineinzulassen. Leise schwatzend saßen sie um einen langen Tisch, auf dem der Teppich bis zur Hälfte ausgebreitet war, die andere Hälfte, an der noch nicht gearbeitet wurde, lag noch zusammengerollt am Ende des Tisches. Die Frauen stickten je nach Erfahrung und Begabung an unterschiedlichen Stellen, die einen durften nur die Gewänder der Ritter farbig aussticken, andere stickten die Pferde, was viel schwieriger war, denn man musste verschiedene Farbschattierungen anbringen. Die verantwortungsvollsten Aufgaben hatten jene, die die Gesichter stickten, denn die Ritter sollten schön und edel erscheinen, keinesfalls aber krumme Mäuler, schielende Augen oder struppige Bärte bekommen.
    Alina ließ den Blick über die Bilder schweifen, die in mühevoller, monatelanger Arbeit entstanden waren, und sie fand nicht eines, das ihr gefallen hätte. Burgen waren zu sehen, plumpe, runde Türme und bunt gekleidete Ritter, die in großen Hallen an festlichen Tafeln saßen. Gebratene Wildschweine, Hasen und Enten wurden von Dienern herbeigetragen, Fässer mit Wein und Bier türmten sich auf. Dazwischen gab es immer wieder Kampfszenen, Reiter, die im Tjost gegeneinander antraten, Schwertkämpfer, Ringer, Männer, die mit Beilen aufeinander losschlugen. Ob Königin Ness alle diese Szenen entworfen und auf den Stoff gezeichnet hatte?
    Ärgerlich zog sie einen neuen Faden in die Nadel und machte sich wieder an die Arbeit. Der Teppich glich Ogyns lügenhaftem Gerede, denn auch er zeigte keines jener Zwischenwesen, die neben Menschen und Tieren auf der Welt zu Hause waren.
    Weshalb mochte Nessa den alten Wandteppich so sorgfältig eingenäht haben? Weil er schadhaft war? Ganz sicher nicht, denn dann hätte sie diese mühsame Arbeit ihren Frauen überlassen. Plötzlich wurde Alina klar, dass Nessa die alte Arbeit mit Bedacht zerstören wollte. Der alte Teppich sollte nicht einfach nur hinter den neuen genäht werden, die Frauen sollten mit ihren Nadeln hindurchstechen, die Fäden der neuen Stickerei durch die alte hindurchziehen, damit man die beiden nicht mehr voneinander trennen konnte.
    »Hast du mal gesehen, was auf dem alten Wandteppich dargestellt war?«
    Asa hielt zwei braune Fadenbündel ins Licht, um die Farben miteinander zu vergleichen, denn sie stickte den Bauch eines Kampfrosses.
    »Nein«, sagte Asa und entschied sich für den helleren Farbton. »Ich glaube, keine von uns hat ihn gesehen. Er lag wohl jahrelang zusammengerollt in einer Truhe, da haben ihn die Motten schon angefressen.«
    Ein unbändiger Zorn stieg plötzlich in Alina auf. Warum hatte Nessa einen so großen Teppich wohl jahrelang in eine Truhe gestopft, anstatt ihn aufzuhängen, da im Winter doch jedes Stück Stoff an den kalten Mauern willkommen war? Ganz sicher nur deshalb, weil er von der ersten Frau des Königs gestickt worden war. Etain, ihre verstorbene Mutter, hatte diesen Teppich hergestellt, es konnte gar nicht anders sein!
    »Gib mir mal die Schere, Asa!«
    Alina stand von ihrem Hocker auf und ging zum Ende des Tisches, dort, wo der noch unbearbeitete Stoff zusammengerollt lag. Mit einem festen Ruck stach sie die spitze Schere in die Leinwand und begann zu schneiden. Farben sprühten im Sonnenlicht, ineinander verschlungene Pflanzen wurden sichtbar, zierliches Blattwerk in allen Schattierungen vom zarten Lindgrün bis zu dunklem Braun …
    »Bist du noch bei Sinnen!«, kreischte Asa. »Hör auf damit!«
    Alina schnitt unbeirrt weiter, fasste das Leinen mit beiden Händen und riss es entzwei, so dass immer mehr von dem darunter verborgenen Schatz sichtbar wurde. Weiße Mauern, aus breiten Quadern errichtet, von Pflanzen und Blüten umrankt, helle, schlanke Türme, an denen sich großblättriges Geißblatt und blühende Rosen emporschlangen, ein Liebespaar stand vor einem silbern schillernden Teich, der das klare Wasser einer Quelle auffing …
    Die Frauen und Mädchen waren aufgesprungen, einige hatten versucht, Alina an ihrem Tun zu hindern, doch als die ersten Bilder des alten Teppichs leuchtend hervortraten, waren alle verblüfft zurückgewichen. Niemand von

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