Schattengefährte
war tief und weich wie die dunkelbraune Wolle, die man zu zarten Fäden verspann. Sein Mund hatte durch ihr dichtes Haar hindurch den Weg zu ihrem Ohr gefunden, und sie spürte seinen warmen Hauch.
»Das … das kann ein Rabe sowieso nicht verstehen«, schniefte sie.
»Versuch es. Raben sind klüger, als du glaubst.«
Sie seufzte tief und ließ zu, dass er ihr vorsichtig die nassen Strähnen aus dem Gesicht strich. Sie musste scheußlich aussehen, ganz rot und vom Weinen aufgequollen. Rasch drehte sie den Kopf und vergrub ihr Gesicht in seinem Gewandrock.
»Nun? Hat meine Herrin kein Vertrauen zu mir?«
Wie sollte sie ihm das erklären? Was verstand ein Rabenkrieger vom Sticken? Von boshaften Stiefmüttern?
»Es geht um einen Teppich …«
»Ich weiß«, sagte er sanft. »Ich habe auf dem Dach des Torgebäudes gesessen und in Nessas Gemach hineingesehen. Die Fenster standen ja weit genug offen.«
»Sie hat den Teppich zerstört, den meine Mutter gestickt hat. Sie hat mich Bastard genannt. Wechselbalg …«
Jetzt überkam sie wieder der Jammer, und sie schluchzte aufs Neue. Er wiegte sie an seiner Brust wie ein Kind und wartete geduldig, bis sie sich wieder beruhigt hatte.
»Soll ich ihr dafür die Augen aushacken?«
»Um Himmels willen – nein! Ich bin schon heute früh zu Tode erschrocken, als du Ogyn angegriffen hast!«
»Hast du dir etwa Sorgen um deinen Lehrer gemacht?«
»Um Ogyn? So ein Unsinn. Um dich hatte ich Angst.«
Er wich ein wenig zurück, um ihr ins Gesicht sehen zu können. Seine Augen glänzten.
»Du hattest Angst um mich, Alina?«, fragte er lächelnd.
Unwillig senkte sie den Kopf und rieb sich mit der Hand über Stirn und Wangen. Bestimmt war sie noch rot wie eine Erdbeere.
»Er hätte dich packen und in einen Käfig stecken können.«
Sein Körper erbebte unter dem aufkommenden Gelächter, sie konnte es deutlich spüren, denn er hielt sie immer noch fest in seinen Armen.
»Das wäre lustig gewesen, denn ich hätte den Käfig zerbrochen wie dünnes Reisig. Niemand kann einen Rabenkrieger einsperren, denn er ist frei wie ein Vogel.«
Es klang beneidenswert, und sie musste daran denken, dass man sie nun wohl tagelang in ihrem Schlafgemach gefangen halten würde. Solange bis ihr Vater zurückkehrte … Doch wer konnte wissen, wann das sein würde …
»Ich wünschte, ich wäre auch frei«, seufzte sie. »Dann könnte ich sehen, was hinter den Grenzen liegt. Das Reich der Zwerge. Die Drachen. Das Land der Feen.«
Er schwieg, doch sie spürte, wie sein Atem rascher ging. Dachte er über etwas nach, das ihn beunruhigte?
»Ich könnte zum wandernden Fluss reiten und meinen Vater aufsuchen. Ich mache mir Sorgen um ihn. Die Wolfskrieger haben eine seiner Burgen belagert, und es kann sein, dass sie Drachen als Helfer haben …«
Er holte tief Luft, als müsse er einen harten Entschluss fassen.
»Was also verlangst du von mir?«, fragte er leise. »Soll ich dich an jene Orte bringen, nach denen du dich sehnst?«
Sie runzelte die Stirn, denn sie glaubte, er wolle sich einen Scherz mit ihr machen.
»Habe ich Flügel?«, murrte sie.
»Nein. Aber ich.«
Einen Augenblick lang war sie starr, ihr Kopf war leer, nur ihr Herz klopfte laut und rasch. Er hatte Flügel – gewiss. Aber wie wollte er denn … Das war doch ganz unmöglich. Er machte sieh über sie lustig.
»Wenn du mir vertraust, dann wirst du heute Nacht viele Dinge sehen, die dir bisher verborgen waren«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Es ist eine besondere Nacht, hell und sternenklar.«
»Du … du würdest mich durch die Luft tragen?«, fragte sie atemlos.
»Ja.«
Sie hatte den Kopf gehoben und blickte ihm forschend ins Gesicht, denn sie konnte immer noch nicht glauben, was er so selbstverständlich in Aussicht stellte. Seine Züge waren ernst, kein Lächeln, kein verstecktes Schmunzeln war darin zu entdecken, viel eher glaubte sie, Anteilnahme und eine tröstende Zärtlichkeit in seinen dunklen Augen zu lesen.
»Du musst allerdings ganz genau tun, was ich dir sage, Alina«, forderte er, und sein Blick wurde jetzt eindringlich. »Versprich es mir.«
»Versprochen.«
Sie war neugierig, wie er dieses Kunststück bewerkstelligen wollte. Er war ein Rabenkrieger, ein Zwischenwesen, er konnte sich verwandeln – aber wie der kleine Rabe sie tragen sollte, das wollte ihr nicht in den Kopf.
»Schließe die Augen!«
»Weshalb?«, fragte sie enttäuscht.
»Weil du versprochen hast, zu tun, was ich dir sage.«
Sie seufzte
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