Schattengefährte
ihnen hatte je solch eine feine Arbeit gesehen, auch nicht solche Farbkraft, schon gar nicht Bilder wie diese, die wirkten, als blicke man aus dem Fenster in eine lebendige Landschaft hinein.
»Was für ein Garn ist das? Es ist fein wie Menschenhaar.«
»Wie kann man damit sticken? Die passenden Nadeln gibt es gar nicht.«
»Es glitzert wie blankes Silber! Schaut euch dieses Blatt an – ich könnte ein Jahr daran sticken und brächte es doch nicht so hin. Es scheint sich im Wind zu bewegen …«
Noch standen alle versunken in Staunen, da öffnete ein Page die Tür, und Königin Nessa betrat den Raum. Sie hatte wenig Mühe, die Lage zu begreifen, denn ihre Frauen wichen erschrocken zurück, und nur Alina blieb neben dem Tisch stehen, die Schere noch in der Hand.
Nessas Gesicht färbte sich fast ebenso rot wie die verschlungene Haube, von der es eingerahmt wurde.
»Bastard! Wechselbalg!«
Ihre Stimme, die sonst kräftig war, überschlug sich vor Erregung, und sie zitterte so, dass zwei ihrer Frauen herbeiliefen, um die Herrin zu stützen.
»Du kannst dieses Bild nicht zerstören!«, rief Alina in leidenschaftlichem Zorn. »Es ist schöner als alles, was du in deinem ganzen Leben zustande gebracht hast. Und jetzt, da es alle gesehen haben, wird keine deiner Frauen mehr für dich sticken!«
Nessa stieß die hilfreichen Frauen mit einer wütenden Bewegung von sich, sie schwankte, doch sie hielt sich aufrecht.
»Hinaus mit dir! Warte nur, bis dein Vater zurück ist. Dann wirst du deine Strafe erhalten!«
Kapitel 7
Zwei Knechte bewachten das Gemach der Königstochter, Nessa hatte verfügt, dass Alina bis zur Rückkehr des Königs ihren Schlafraum nicht mehr verlassen durfte. Nur allzu gern hätte Nessa ihre Stieftochter in den Kerker gesperrt, denn ihr Zorn war ungeheuer groß, hatte Alina sie doch vor all ihren Frauen bloßgestellt. Doch die Königin wusste um die zärtliche Liebe ihres Mannes zu seiner Tochter – daher wagte sie nicht, ihr ein Leid zuzufügen.
»Weshalb konntest du dich nicht im Zaum halten?«, seufzte die alte Macha. »Du hast dir eine böse Feindin gemacht, Alina. Das war nicht klug von dir.«
»Sie hat das Werk meiner Mutter zerstört, diese Hexe!«
Macha schüttelte den Kopf und klappte die Truhe auf, um ein frisches Laken herauszunehmen.
»Sie kann es gar nicht zerstören, Alina. Auch wenn sie es in Leinen einnäht und andere Bilder darüber sticken lässt – die Stickerei, die deine Mutter einst mit ihren Frauen geschaffen hat, bleibt dennoch erhalten.«
Alina hatte sich auf dem Hocker zusammengekauert und hielt die hochgezogenen Knie mit den Armen umschlungen. Trotzig starrte sie vor sich hin, ab und zu schniefte sie, doch sie wollte auf keinen Fall zulassen, dass ihr die Tränen in die Augen stiegen.
»Hast du den Teppich einmal gesehen, Macha?«
Die alte Frau hatte alle Decken und Polster von Alinas Bett geräumt, jetzt zog sie das Laken fort, um das neue aufzulegen. Einen Augenblick hielt sie in ihrer Arbeit inne und lauschte – draußen im Flur rollten hölzerne Würfel über den Boden, die Knechte vertrieben sich die Zeit mit einem Spielchen.
»Ja, Alina, ich habe den Teppich gesehen. Er war früher im großen Rittersaal auf der Wand ausgespannt, und es war eine Pracht, ihn anzuschauen. Es war dein Vater, der befahl, die Stickerei herunterzunehmen. Nessa hat nur seinen Willen befolgt.«
»Mein Vater!«
Das war unfassbar! Dass Nessa in ihrer Eifersucht dazu fähig gewesen war, das hätte sie noch verstehen können. Aber ihr Vater!
»Weshalb hat er das getan?«, flüsterte sie unglücklich. »Er hat meine Mutter doch geliebt, oder nicht? Warum ließ er dann diesen Teppich abnehmen, den sie mit eigener Hand angefertigt hat?«
Macha schüttelte das frische Bettlaken auseinander und machte sich daran, es sorgfältig über die Polster zu breiten und festzustecken.
»Ja, er hat sie sehr geliebt«, sagte sie nach einer Weile. »Vielleicht ist das gerade der Grund, weshalb er den Anblick dieser Stickerei nicht mehr ertragen konnte.«
Das war einleuchtend, auch wenn es Alina wehtat. Es gab nichts in dieser Burg, das an ihre Mutter erinnerte. Auch sie selbst besaß nicht einmal ein Andenken an sie, kein Gewand, keinen Schmuck, kein Kästchen – nichts. Der Name ihrer Mutter wurde nicht genannt. Konnte man den Schmerz über den Tod eines geliebten Menschen besser ertragen, indem man alle Erinnerungen an ihn auslöschte?
Keuchend richtete sich Macha auf und betrachtete ihr
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