Schattengilde 01 - Das Licht in den Schatten
die es sich drehte, war der ersten zarten Blüte der Jugend entwachsen, aber noch längst keine reife Dame. Sie zählte vielleicht fünfundzwanzig Lenze.
Lady Gwethelyn und ihr Junker waren bei Sonnenaufgang an Bord gekommen. Nachdem ihr Gepäck in der kleinen Passagierkajüte verstaut war, hatte sie den Kapitän um Erlaubnis gebeten, auf dem Vorderdeck sitzen zu dürfen, da sie Schiffsreisen schlecht vertrug, und hoffte nun, sich mit Hilfe der kühlen Brise an die schaukelnden Bewegungen des Bootes zu gewöhnen. Ihre leise, tiefe Stimme und ihre sanfte Art hatten den Kapitän sogleich gefesselt.
Die Fahrt flußabwärts würde diesmal gar nicht so langweilig werden.
Rhal betrachtete sie im Licht des frühen Morgens und fand seinen ersten Eindruck bestätigt. Ihr sorgfältig drapierter Schleier umrahmte ein ernstes Gesicht mit feinen Zügen. Unter dem Umhang trug sie ein hochgeschlossenes Reisegewand, das ihre schlanke Taille und den sanft gerundeten Busen betonte. Die Hüften waren wohl ein wenig schmal, aber wie er schon zu Skywake sagte, mochte er besonders mädchenhaft schlanke Frauen. Der scharfe Wind blies einen rosigen Hauch auf ihre blassen Wangen, und ihre großen grauen Augen schienen zu glänzen, als sie sich ihrem Reisegefährten zuwandte, um ihn auf etwas am fernen Ufer aufmerksam zu machen. Vielleicht war sie doch nicht viel älter als zwanzig?
Die Pfeil transportierte hauptsächlich Felle und Gewürze, aber schon vor Jahren hatte Rhal herausgefunden, daß es auch sehr lukrativ war, unter Deck eine Extrakabine für Passagiere bereitzuhalten.
Am Vorabend hatte eine alte Dienerin Passagen für die Lady und ihren Junker gebucht. Bei einem Glas Bier beschwor die redselige Alte die Schönheit ihrer Herrin und beklagte deren zarte Konstitution, die sie zwang, die harten Wintermonate bei Verwandten im Süden zu verbringen.
Das war durchaus keine Seltenheit; viele der wohlhabenden Kaufleute in den Nordländern hatten Ehefrauen, die aus dem Süden stammten, und oft zogen es diese Damen vor, in ihre warme Heimat zu reisen, ehe der eisige Winter hereinbrach.
Rhal vergewisserte sich, daß das Segel richtig gesetzt war, dann übernahm er das Ruder. Der Folcwine war breit und generell gut schiffbar, aber zu dieser Jahreszeit mußte man mit Kiesbänken rechnen.
Vom Ruder aus hatte er einen besseren Blick auf seine Passagiere, und er ließ sich wieder ablenken. Der stets gegenwärtige Junker – kaum mehr als ein einfacher Junge, ungeachtet der Livrée und seines Schwertes – war an die Reling getreten.
Die Frau saß mit im Schoß gefalteten Händen und blickte nachdenklich auf das Ufer.
Ihr Kleid, ihre Haltung, der große Granatring, den sie am Zeigefinger über dem Handschuh trug, alles wies sie als Dame von Format aus, aber Rhal fragte sich, warum sie ohne großes Gepäck an Bord gekommen war. Außer einem Korb hatte sie nur einen nicht allzu schweren Koffer bei sich. Auch der Junker brachte nur eine alte Reisetasche, die wenig mehr wog – das war kaum das Reisegepäck einer Edelfrau. Außerdem reiste sie ohne weibliche Bedienstete, und die späte Stunde, zu der die Passage gebucht worden war, ließ ihn eine interessante Vermutung anstellen. Hatte sie vielleicht ihren Mann verlassen? Man sollte die Hoffnung nicht aufgeben, und bei Astellus, er hatte eine ganze Woche, es herauszufinden!
Seregil wäre gewiß äußerst zufrieden gewesen mit dem Eindruck, den er auf den Kapitän gemacht hatte, seine nachdenkliche Stimmung jedoch war nicht vorgetäuscht.
In der vorangegangenen Nacht, nachdem er passende Kleidung für sich und Alec gefunden hatte, untersuchte er noch einmal Micums Wunde und versuchte vergebens, ihn zu bewegen, im Bett zu schlafen. Nachdem alles Überreden fruchtlos geblieben war, ließ er sich neben Alec ins Bett fallen und war sogleich eingeschlafen. Abgesehen davon, daß die Ereignisse des Tages ihn erschöpft hatten, war das die einzige Weise, Micums dröhnendem Schnarchen zu entfliehen.
Etwas später weckte ihn das Gefühl, daß etwas nicht stimmte.
Ein starker Wind war aufgekommen, der um die Ecken des Hauses und durch die Sprünge im Mauerwerk fuhr. Im Feuertopf glomm nur noch ein schwacher Schein. Seregil war kalt, abgesehen von der Wärme, die Alecs nackter Rücken ihm schenkte, der gegen seinen ruhte. Das erschien ihm seltsam, denn er erinnerte sich nicht daran, daß sich der Junge ausgezogen hätte. Außerdem würde Alecs Schamgefühl es nie zulassen, nackt an jemandes Seite
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