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Schattengilde 01 - Das Licht in den Schatten

Titel: Schattengilde 01 - Das Licht in den Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lynn Flewelling
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zu liegen.
    Aber das war nicht alles, stellte er schlaftrunken fest. Im matten Schein des Feuertopfes erkannte er Micum, der auf den Decken bei der Tür lag.
    Irgend etwas stimmte hier nicht – wenn er nur klar denken könnte.
    Er erhob sich und ging zu Micum, die Berührung der kalten, groben Bohlen an den Füßen behagte ihm nicht. Unruhe erfaßte ihn, als er sich zu seinem Freund hinabbeugte; noch nie hatte er ihn so ruhig schlafen gesehen.
    Micum lag zusammengerollt auf der Seite und hatte das Gesicht abgewandt, so daß Seregil ihn kaum atmen hörte. Tatsächlich vernahm er überhaupt kein Atmen.
    »Micum, wach auf«, flüsterte er, aber seine Kehle war so trocken, daß er kaum einen Ton herausbrachte. Angst – greifbare, kalte Angst – bemächtigte sich seiner, und er rüttelte an der Schulter des Freundes in dem verzweifelten Versuch, ihn zu wecken.
    Micum war so kalt wie der Boden unter Seregils Füßen. Seregil riß seine Hand zurück und bemerkte das Blut. Micums Körper sank schlaff auf den Rücken und Seregil sah die klaffende Wunde in der Kehle seines Freundes, in der noch sein eigener Dolch steckte. Micums Augen waren offen und sein Gesicht drückte völlige Überraschung und Traurigkeit aus.
    Ein verzweifelter Aufschrei blieb in Seregils Kehle stecken.
    Er wich zurück über die rauhen Bohlen.
    Der eisige Wind brüllte mit Wucht gegen das Haus an und riß einen der Fensterläden auf. Durch den Luftzug glommen die Kohlen einen Lidschlag lang heller, und in dem kurzen Lichtschein erblickte Seregil eine hochgewachsene Gestalt in der Ecke am Fenster stehen. Der Mann war vom Kopf bis zu den Knien in einen dunklen Umhang gehüllt, aber Seregil erkannte die aufrechte Haltung, die leichte Neigung des Kopfes und die scharfe Linie, die sich unter dem Umhang abzeichnete, als ruhe eine unsichtbare Hand auf einem Gürtel oder einem Schwertgriff. Und mit der unangenehmen Mischung aus Erkenntnis und Erinnerung wußte er genau, wie ihre Unterhaltung beginnen würde.
    »Nun, Seregil, das ist ja ein feiner Zustand, in dem ich dich hier vorfinde.«
    »Vater, es ist nicht so, wie es scheint«, erwiderte Seregil und verabscheute den flehenden Klang seiner eigenen Worte – das Echo seines früheren Selbst, das diese Worte in einer Situation, nicht unähnlich der gegenwärtigen, gestammelt hatte.
    Es lag jedoch nicht in seiner Macht, seiner Stimme einen anderen Klang zu verleihen. Aber sein jetziges Ich war sich unangenehm bewußt, daß es keine Waffe in der Hand hielt.
    »Es scheint, du hast einen toten Freund auf dem Boden und einen im Bett.« Die Stimme seines Vaters klang ganz so, wie er sich an sie erinnerte, trocken, sarkastisch und voll kalkulierter Mißbilligung.
    »Das ist nur Alec …«, begann Seregil verärgert, aber die Worte blieben ihm im Halse stecken, als der Junge sich voll lüsterner Sinnlichkeit, die so ganz im Gegensatz zu seinem sonstigen Wesen stand, erhob. Er ging zu Seregil, drückte sich an ihn und blickte dessen Vater an.
    »Deine Wahl, was deine Gefährten betrifft, hat sich nicht verbessert.«
    »Vater! Bitte!« Das schwindelnde Gefühl, den Boden der Wirklichkeit unter sich verloren zu haben, bemächtigte sich seiner, und er sank auf die Knie.
    »Das Exil hat deine niederen Neigungen begünstigt«, höhnte sein Vater. »Du bist nach wie vor eine Schande für unser Haus. Eine andere Strafe muß gefunden werden.«
    Dann schüttelte er mit dieser so raren Zärtlichkeit, die Seregil stets aufs neue überraschte, den Kopf und seufzte. »Seregil, du bist mein Jüngster, was soll ich nur mit dir tun? Es ist so lange her. Laß uns zumindest die Hände reichen!«
    Seregil streckte seine Hände nach denen des Vaters aus. Tränen der Scham brannten in seinen Augen, als er versuchte, einen Blick auf das so vertraute Gesicht zu werfen. Doch selbst jetzt keimte eine winzige Ranke des Zweifels in ihm auf.
    »Du bist tot!« stöhnte Seregil und versuchte zu spät, sich dem fleischlosen Griff, der ihn hielt, zu entwinden. »Vor neun Jahren! Adzriel sandte die Nachricht. Du bist tot!«
    Sein Vater nickte zustimmend und schob die Kapuze zurück. Ein paar Strähnen dunklen Haars fielen über den verwitterten Schädel. Die stechenden, grauen Augen waren fort und hatten zwei leere Höhlen zurückgelassen, die Nase war abgefressen, und vertrocknete Lippen verzerrten sich zur Parodie eines Lächelns, als er das entstellte Gesicht neigte. Ein finsterer, modriger Geruch umfing Seregil.
    »Das ist wahr, aber ich bin

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