Schattengilde 01 - Das Licht in den Schatten
immer diese Visionen bedeuten mochten, sie waren für ihn alleine gedacht.
Das Schlimmste kam, als die Sonne sich dem Horizont näherte. Die Erscheinung hatte sich eine Weile nicht mehr sehen lassen, als ganz unvermittelt Eiseskälte nach Seregil griff. Er fuhr hoch, seine zitternden Beine trugen ihn nur unwillig, dann sah er nach hinten und entdeckte die Gestalt, die mit ihnen auf dem Karren fuhr, sie hatte die Arme ausgestreckt, als wolle sie Alec und Seregil an ihre Brust drücken. Der Ärmel des schwarzen Gewandes berührte Alecs Stirn.
Dann lachte es, ein sattes, spottendes Glucksen drang aus den Tiefen der schwarzen Kapuze, und mit dem Geräusch wehte der Gestank verwesenden Fleisches heran, Seregils Magen rebellierte, noch während er mit dem Jungen rang, um an dessen Schwert zu gelangen.
Alec war nun überzeugt, daß Seregil völlig verrückt geworden war. Er verteidigte sein Schwert, dabei fielen sie vom Wagen.
Seregil landete auf Alec. Das Pony zog den Karren noch ein Stück, dann hielt es an. Seregil sah hoch und fand den Wagen leer.
Er hockte sich auf seine Fersen und sog tief Luft ein, eine Hand preßte er gegen die Brust.
»Sieh mich an!« verlangte Alec verärgert. Er stolperte auf die Füße und packte Seregil an den Schultern. »Mach dir um das Pony keine Gedanken. Es wird stehenbleiben. Du mußt mir endlich sagen, was los ist! Ich möchte dir helfen, aber, verdammt, Seregil, sprich mit mir!«
Seregil schüttelte langsam den Kopf, er starrte nach wie vor an Alec vorbei auf den Karren. »Fahr weiter, Alec, wir müssen vor Anbruch der Dunkelheit von der Straße fort sein!« Dann flüsterte er: »Aura Elustri Málrei …«
»Sag mir, was du gesehen hast!« schrie Alec und schüttelte ihn frustriert.
Seregil starrte Alec an, dann packte er ihn voll Verzweiflung am Hemd. »Wir müssen die Straße verlassen!«
Alec betrachtete ihn nachdenklich und schüttelte resigniert den Kopf. »Das werden wir«, versprach er.
Kurz bevor die Nacht hereinbrach, erreichten sie eine heruntergekommene Herberge an der Straße. Seregils Knie zitterten, als er vom Karren kletterte, und Alec stützte ihn auf dem Weg in den Schankraum.
»Ich möchte ein Zimmer. Nein, zwei Zimmer«, sagte Alec kurz angebunden zum Wirt.
»Die Treppe hinauf.« Der Mann musterte Seregil nervös. »Ist dein Freund hier krank?«
»Nicht kränker als unser Geldbeutel es zuläßt«, sagte Seregil und zwang sich zu lächeln. Es bedurfte all seiner Kraft, überzeugend zu wirken. Sobald er jedoch außer Sichtweite des Wirtes war, sackte er gegen Alecs Schulter, als sie die schmale Stiege hinaufgingen.
Er war plötzlich müde, so unsäglich müde! Als Alec ihn auf das Bett setzte, war er schon halb eingeschlafen.
Er schlief ein, erwachte wieder und nickte abermals ein. Alec blieb eine Weile bei ihm. Er versuchte Seregil zum Trinken zu bewegen, aber dieser wollte nur schlafen. Als Alec das Zimmer verließ, hörte Seregil noch, wie sich der Schlüssel im Schloß drehte. Alles erschien ihm seltsam, aber er war viel zu schläfrig, um darüber nachzudenken. Er drehte sich zur Seite und döste wieder ein.
Etwas später erwachte er zitternd. Es war kalt geworden im Zimmer, und Alec drückte ihn ihm Bett gegen die Wand und bohrte ihm dabei den Ellenbogen ins Kreuz. Er drehte sich ein wenig, um sich etwas Platz zu verschaffen, fror aber zu sehr, um wieder einschlafen zu können. War vielleicht das Fenster offen? Hatte das Zimmer überhaupt ein Fenster? Er konnte sich nicht erinnern.
Er gab auf und öffnete die Augen, die Nachtlampe brannte noch.
»Verdammt, Alec, beweg dich …«
Die Worte blieben ihm im Hals stecken.
Neben ihm lag nicht Alec, sondern sein Foltermeister, die schwarze Gestalt. Sie lag auf dem Rücken, die Arme über der Brust gefaltet in einer schaurigen Parodie eines Aufgebahrten. Er verhielt sich völlig reglos, als Seregil sich über das Fußende des Bettes zog und zur Tür hastete. Zu spät erinnerte er sich daran, daß sie verschlossen war.
»Alec! Alec, hilf mir!« brüllte er und hämmerte gegen die Tür. Panik erfaßte ihn und nahm ihm die Luft zum Atmen.
»Keiner wird dich hören.«
Die Worte des Wesens klangen wie ein pfeifender Wind, der durch die Äste winterkahler Bäume fuhr – ironisch, unmenschlich, die verkörperte Verzweiflung. Seregil wirbelte herum, und das dunkle Ding setzte sich auf, der Oberkörper blieb dabei vollkommen steif. Auf dieselbe, unnatürliche Weise beugte es sich leicht vor und erhob
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