Schattengilde 01 - Das Licht in den Schatten
seinem Bier im Schankraum sitzen.
Am nächsten Morgen war Seregils Hunger einem hohlen Schmerz gewichen; selbst der Gedanke an Wasser verursachte ihm Übelkeit.
Hinzu kam, daß ihn Schuldgefühle gegenüber Alec plagten. Der Junge hatte sich als zu ehrenhaft erwiesen, um ihn einfach im Stich zu lassen, aber wie sehr mußte er nun sein Versprechen bedauern. Seregil versuchte Kraft für ein Gespräch zu sammeln, als sie die Straße entlangholperten. Plötzlich glaubte er aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrzunehmen. Er fuhr herum, konnte aber nichts entdecken. Er rieb sich die Augen und glaubte, sein geschwächter Körper spiele ihm einen Streich, als er dieselbe Bewegung erneut wahrnahm.
»Was ist los?« fragte Alec und sah Seregil fragend an.
»Nichts.« Seregil spähte in die leere Gegend. »Ich glaubte, etwas gesehen zu haben.«
Die lästige Erscheinung wiederholte sich im Laufe des Tages, und am Abend war Seregil noch angespannter und abwesender als bisher. Vielleicht war es eine Form des Wahnsinns, mutmaßte er, aber seine geübten Instinkte sagten ihm, daß irgend etwas anderes nicht stimmte. Außerdem war der heftige Kopfschmerz während des Tages zurückgekehrt, was ihn nahezu apathisch machte und unfähig, die Angelegenheit gebührend zu überdenken. Er zog den Umhang enger, hielt Ausschau und kämpfte gegen das Verlangen einzuschlafen an.
Die folgende Nacht verbrachten sie auf dem Heuboden eines einsamen Hofes. Seregils Alpträume kehrten aufs heftigste zurück, und er erwachte schweißnaß. Angst hatte sich seiner bemächtigt, die er nicht erklären konnte; zwar erinnerte er sich nicht an Einzelheiten des Traumes, aber die besorgten Seitenblicke seines Gefährten bestätigten ihm, daß er unruhiger gewesen war als bisher.
Er wollte eben den Jungen darüber befragen, als er in einer dunklen Ecke der Scheune eine Bewegung wahrnahm. Alec, der mit dem Zaumzeug des Pferdes beschäftigt war, konnte nicht sehen, wie er sich kampfbereit machte und nach dem Schwert griff, das er nicht mehr am Gurt trug.
Nichts war zu sehen.
Das wird der vierte Tag sein, an dem er nichts zu sich nimmt, dachte Alec, als sie wieder über die Straße holperten. Bleich und hohlwangig kauerte Seregil neben ihm, trotzdem wunderte sich Alec, wie tapfer sein Gefährte sich hielt, wenn auch nur in körperlicher Hinsicht. Seregils merkwürdiges Verhalten jedoch beunruhigte ihn sehr.
Heute saß er gebeugt wie ein alter Mann auf der Bank, er wirkte völlig mutlos, aber gelegentlich fuhr er hoch und schien außerordentlich angespannt. In diesen Momenten erstrahlten seine Augen in einem schrecklich anzusehenden Glanz, und er ballte die Fäuste, bis es schien, die Haut über den Knöcheln würde reißen. Dieses seltsame Verhalten und die Erinnerung an die Vorkommnisse der vergangenen Nacht ließen nichts Gutes erahnen. Alec machte sich nun um Seregil ebenso große Sorgen wie um sich selbst.
Er wollte in der Nacht zuvor Wache halten, aber die Anstrengung der vorangegangenen Tage war zuviel gewesen, und schließlich waren ihm die Augen zugefallen. Als er mitten in der Nacht erwachte, sah er Seregil, der einen Schritt entfernt vor ihm hockte. Seine Augen leuchteten wie die einer Katze im Dunkeln, und sein Atem klang rauh wie ein Knurren. Bewegungslos hockte er einfach da und starrte Alec an.
Alec wußte nicht mehr, wie lange sie so verharrt waren, um sich gegenseitig niederzustarren, aber schließlich war es Seregil gewesen, der sich abgewandt und sich ins Stroh geworfen hatte. Dieses Erlebnis jedoch und Seregils nervöses Ausschauhalten bestärkten sein Vorhaben, die Augen nicht mehr zu schließen, ehe er seinen Begleiter sicher in eine Schiffskajüte schließen konnte.
Jetzt im Sonnenlicht erkannte Alec jedoch nur zu deutlich, wie Seregil litt. Er griff hinter sich und holte eine der schäbigen Decken, um sie Seregil um die Schultern zu legen.
»Du siehst nicht gut aus.«
»Du auch nicht«, krächzte Seregil durch trockene Lippen. »Wenn wir die Nacht durchfahren, erreichen wir vielleicht morgen nachmittag schon Keston. Ich könnte auch eine Weile die Zügel nehmen – wenn du Schlaf brauchst.«
»Nein, ich komme schon klar!« erwiderte Alec rasch. Zu rasch, wie es schien, denn Seregil wandte sich wieder ab und setzte seine verdrießliche Wache fort.
Am frühen Nachmittag schreckte Seregil plötzlich so heftig hoch, daß Alec mit der Hand seinen Arm festhielt.
»Was ist denn los?« wollte er wissen. »Seit gestern bist du
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