Schattengilde 02 - Der Gott der Dunkelheit
Fremden hinunter. Just in diesem Augenblick drehte die jüngere Frau den Kopf in Alecs Richtung, und ihm stockte der Atem, als er die feingeschnittenen Züge, das dunkle, seidig glänzende Haar und die großen, hellen Augen erkannte …
Aurënfaie.
Ohne den Blick abzuwenden, streckte er die Hand nach der Schulter seines Freundes aus und fühlte noch, wie Seregil zitterte, bevor er sie abschüttelte.
Die Besprechung unten dauerte noch eine Weile an. Letztlich erhob sich die Königin und führte die anderen aus dem Saal. Seregil verharrte noch einen Augenblick mit der Stirn an die Leisten gelehnt, als eine einzelne Träne sich löste und über die Wange kullerte. Hastig wischte er sie weg und wandte sich zu Nysander um, der die ganze Zeit schweigend hinter ihnen gestanden hatte.
»Warum sind sie hier?« wollte Seregil mit vor Bewegung belegter Stimme wissen.
»Der plenimaranische Hochkönig ist heute gestorben«, erwiderte der Magier. »Die Aurënfaie haben die Neuigkeit vor uns erfahren und heute nacht eine Abordnung hierher gezaubert. Zwar gibt es nach wie vor kein offizielles Bündnis zwischen Plenimar und Zengat, aber sowohl der Nachrichtendienst der Aurënfaie als auch unser eigener glauben, daß geheime Abmachungen getroffen wurden.«
»Was hat das mit uns zu tun?« Nun wirkten Seregils Züge wie versteinert; der blanke Kummer war allzu schnell und vollständig verschwunden.
»Bislang noch nichts«, antwortete Nysander. »Ich habe dich hergerufen, weil die Iia’sidra zugesagt hat, kurz mit dir zu reden. Gleich hinter dieser Tür dort ist ein kleines Vorzimmer.«
Mit ungebrochen starrer und ausdrucksloser Miene verschwand Seregil in der angrenzenden Kammer.
Sobald die Tür geschlossen war, stieß Alec aufgeregt die Luft aus, was er sich zuvor verkniffen hatte. »Bei Illiors Händen, Nysander – Aurënfaie!«
»Ich war der Meinung, du solltest sie auch sehen«, sagte Nysander und lächelte seltsam traurig.
»Wen trifft er da drin?«
»Das muß Seregil dir erzählen. Und mit ein wenig Glück tut er es noch, bevor du diesen wunderbaren Teppich durchwetzt.«
Unruhig, ein Auge ständig auf die Seitentür gerichtet, ging Seregil in dem kleinen, stilvoll eingerichteten Wartezimmer auf und ab. Und während er auf und ab ging, bemühte er sich, zumindest einen gewissen Anschein innerer Ruhe zu bewahren. An der Wand befand sich ein Spiegel, vor dem er innehielt, um reumütig sein Abbild zu betrachten. Sein Haar war verworren und vom Wind zerzaust, und die anstrengende Woche, während der er sich mit Rythel befaßt hatte, schlug sich in dunklen Ringen unter den Augen nieder. Der alte Kittel, den er für diesen Abend angezogen hatte, war an den Ärmelaufschlägen ausgefranst und an einer Schulter aufgerissen.
Sehe ich nicht wie der zerlumpte Ausgestoßene aus, der ich bin? dachte er und schenkte dem Spiegel ein freudloses Lächeln, während er sich mit den Fingern durch die Haare fuhr.
Hinter ihm öffnete sich die Tür; einen Augenblick war ein zweites Antlitz neben dem seinen zu sehen – ein Gesicht, dem seinen so ähnlich und doch Welten voneinander entfernt. Wann waren seine Augen so argwöhnisch, die Züge rings um den Mund so verhärmt geworden?
»Seregil, mein Bruder.« Ihr reines, makelloses Aurënfaieisch umspülte ihn wie kühles Wasser.
»Adzriel«, flüsterte er und umarmte sie. Der Duft von Rosenblüten strömte ihm von ihrem Haar und ihrer Haut entgegen und blendete ihn mit Erinnerungen. Sie war ihm gleichermaßen Schwester und Mutter gewesen, und mit einem Schlag fiel ihm wieder ein, wie es sich angefühlt hatte, ein Kind zu sein, ihren besonderen Duft zu riechen, wenn sie ihn tröstete oder von einer Feier im Mondenschein nach Hause trug. Nun fühlte sie sich klein in seinen Armen an; eine lange Weile war er unfähig, etwas anderes zu tun, als sich an ihr festzuhalten, während vier Jahrzehnte unvergossener Tränen einen schmerzvollen Kloß in seiner Kehle bildeten.
Schließlich trat Adzriel einen Schritt zurück, ohne dabei seine Schultern loszulassen, so als fürchtete sie, er würde andernfalls verschwinden.
»All die Jahre trage ich nun schon das Bild jenes unglücklichen Knaben in mir, wie er an jenem furchtbaren Tag vom Deck zu mir herunterschaut«, schluchzte sie und ließ den eigenen Tränen freien Lauf. »O Aura, ich durfte nicht miterleben, wie du zu einem Mann herangewachsen bist! Und sieh dich jetzt an; wild wie ein Tírfaie, und du trägst eine Waffe in Anwesenheit einer
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