Schattengilde 02 - Der Gott der Dunkelheit
zwei, bevor wir überhaupt angefangen haben.«
»Wir sind immer noch vier, Micum.«
Micum starrte eine Weile auf das Mosaik unter seinen Füßen, dann legte er die Hand auf Seregils Schulter. »Ich weiß, was Valerius gestern gesagt hat. Ich will es ebensosehr glauben wie du, aber …«
»Nein!« Zornig funkelte Seregil seinen Freund an. »Solange ich nicht seinen Leichnam in den Armen halte, lebt Alec, hörst du?«
Micum verstand die Seelenqual hinter Seregils Wutausbruch nur zu gut. Sollte Alec noch leben, würde Seregil Gevatter Tod höchstpersönlich niederringen, um ihn zu retten. Sollte Alec tot sein, würde er dasselbe tun, um seine Mörder in die Finger zu bekommen. So oder so, die Schuld gab er immer sich selbst.
»Du weißt, daß ich den Jungen genausosehr liebe wie du«, begann Micum sanft, »aber es hilft ihm kein bißchen, wenn wir unser Denken davon beeinträchtigen lassen. Wenn wir uns einen Plan zurechtlegen, müssen wir wenigstens in Erwägung ziehen, daß er tot sein könnte. Wenn dieser ›Schaft‹ tatsächlich ein Bogenschütze ist, dann sollten wir besser …«
Unverändert starrte Seregil aus dem Fenster, doch nun bildeten seine Lippen eine schmale, störrische Linie. »Nein.«
Die Ankunft eines kleinen, wohlgenährten Mannes in einem gewaltigen Morgenmantel unterbrach die beiden.
»Ich bitte um Verzeihung, meine Herren«, entschuldigte er sich und gähnte, während er sie in ein geräumige Beratungszimmer führte. »Wie Ihr ohne Zweifel bereits vermutet habt, bedingt die Natur meiner Studien, daß ich vorwiegend nachts arbeite. Um diese Stunde bin ich selten wach. Ich habe starken Tee bestellt, also wenn Ihr vielleicht …«
»Verzeiht, aber ich nehme an, Ihr habt noch nichts von dem Überfall auf das Orëska-Haus letzte Nacht gehört«, fiel Seregil ihm ins Wort, »oder davon, daß Nysander í Azusthra schwer verwundet wurde.«
»Nysander!« keuchte Leitus, dessen Mantel rings um ihn aufwallte, als er sich auf einen Stuhl plumpsen ließ. »Beim strahlenden Licht, warum sollte jemand diesem anständigen, alten Kerl etwas anhaben wollen?«
»Das kann ich nicht sagen«, antwortete Seregil, dessen Gebaren inzwischen nichts mehr von den Gefühlen verriet, die ihm noch Augenblicke zuvor ins Gesicht geschrieben standen. »Er hat uns zu Euch geschickt, obwohl er zu schwach war, um uns zu erzählen weshalb. Magyana sagt, er hätte euch in letzter Zeit wegen einer astrologischen Angelegenheit zu Rate gezogen. Vielleicht hat es damit zu tun.«
»Meint Ihr?« Leitus ergriff einen Stapel Tabellen von einem Regal und blätterte sie rasch durch. »Hätte er mir doch nur erlaubt, diese Weissagung für ihn zu bearbeiten. Natürlich hat er auf höchst liebenswürdige Weise abgelehnt, aber so … Ah, da ist es!«
Er breitete ein großes Diagramm auf einem polierten Tisch aus und betrachtete es. »Er hat sich für die Bewegung von Rendels Speer interessiert, seht Ihr?«
»Ein Komet?« fragte Seregil.
»Ja.« Der Astrologe deutete auf eine Reihe winziger Symbole, die einen Bogen über das Diagramm beschrieben. »Er weist einen synodischen Zyklus von siebenundfünfzig Jahren auf. Dies ist das Jahr seiner Wiederkehr. Nysander hat mir geholfen, das Datum seiner Ankunft zu errechnen.«
Aufgeregt beugte sich Seregil vor. »Und habt Ihr es?«
Abermals zog der Astrologe seine Pergamente zu Rate. »Mal sehen, aufgrund der Beobachtungen, die in Yrindais Ephemeris aufgezeichnet sind, sowie unserer eigenen Berechnungen, müßte Rendels Speer in der fünfzehnten Nacht des Lithion zu sehen sein.«
»Das heißt, uns bleibt gerade etwas mehr als zwei Wochen Zeit«, murmelte Micum.
»Natürlich wird er sich fast eine Woche am Himmel halten«, fügte Leitus hinzu. »Es ist einer der größten Kometen überhaupt, ein höchst beeindruckender Anblick. Von besonderem Interesse für Nysander und mich ist allerdings der Umstand, daß dieser Zyklus des Kometen mit einer Sonnenfinsternis zusammenfällt.«
Seregil warf Micum einen vielsagenden Blick zu, dann fragte er: »Würde man das auch als synodisches Ereignis betrachten?«
»Gewiß, und zwar als eines der selteneren Art«, antwortete der Astrologe. »Ich war der Meinung, Nysander wäre deshalb so interessiert daran.«
»Jede Sonnenfinsternis bringt Unglück«, stellte Micum fest. »Ich kannte mal einen Mann, der danach blind blieb.«
»Und durch den Kometen am Himmel wird es ein doppelt unheilvoller Tag«, fügte Seregil hinzu, obschon er dabei für Micums
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