Schattengilde 02 - Der Gott der Dunkelheit
Wink.
Mit einem gezwungenen Lächeln auf den Lippen untersuchte, Vargûl Ashnazai den Jungen noch einmal. »Er ist nach wie vor unbefleckt, Herr.«
»Ich bin froh, das zu hören. Es wäre eine Schande gewesen, ihn so kurz vor dem Ziel noch zu verschwenden. Komm, Alec, spazier ein paar Schritte mit mir. Ich möchte dir etwas zeigen, das dir sicher gefallen wird.«
Alec bezweifelte es, hatte aber keine andere Wahl als zu gehorchen. Unter strenger Bewachung folgte er Mardus hinauf an Deck.
Es war ein atemberaubend schöner Tag. Das Himmelsgewölbe erstreckte sich gleich einer tiefblauen Schüssel über der sanft wogenden See. Das Schiff schnitt durch die schaumgekrönten Wellen, die gestreiften Segel bauschten sich in einem lauen Wind von achtern, der durch die Rahen pfiff und einen Teil des Moders der Gefangenschaft von Alecs Haut zu blasen schien.
Ein großes, rechteckiges Stück Segeltuch war unterhalb der vorderen Kampfplattform auf das Deck genagelt worden. Mitten darauf hockte Irtuk Beshar in Meditationshaltung, die angewinkelten Hände auf den Knien.
Zum ersten Mal fiel Alec auf, daß die meisten Seeleute und Marinesoldaten einen weiten Bogen um sie machten. Wer an ihr vorbeigehen mußte, hielt einen Sicherheitsabstand ein und wandte die Augen von dem Dyrmagnos ab.
Dies war auch das erste Mal, daß er sie einigermaßen in Ruhe betrachten konnte. Wie immer trug sie prunkvolle, kunstvoll gearbeitete Gewänder, die einen abscheulichen Kontrast zum schorfigen Kopf und den schuppigen Händen bildeten. Ein paar lange, dunkle Haarbüschel hingen noch an der Kopfhaut; darüber lag eine Art Schleier aus feinen Goldkettchen und Perlen. Wie sie so im hellen Sonnenschein kauerte, wirkte sie zerbrechlich wie die getrocknete Hülle einer Heuschrecke, doch Alec wußte nur allzugut, daß der Schein trog. Im Museum der Orëska hatte er die Hände eines anderen Dyrmagnos gesehen, der in Stücke gehackt und zerstampft worden war. Selbst nach einem Jahrhundert bewegten sich die Hände immer noch. Während Alec zu der kleinen Gestalt hinabschaute, die noch immer meditierte, fragte er sich schaudernd, wie groß wohl das wahre Ausmaß ihrer Macht sein mochte.
Hauptmann Tildus brüllte etwas auf Plenimaranisch, woraufhin sich ein Kontingent Marinesoldaten in zwei Rängen seitlich des rechteckigen Segeltuches aufstellte. Ein paar Seeleute kamen herüber, aber nicht viele. Mardus nickte Alecs Wachen zu, und sie zerrten ihn vor die Soldaten an der linken Seite.
Vargûl Ashnazai verschwand durch eine andere Luke unter Deck. Während er weg war, brachten einige Wachen einen weiteren Gefangenen herauf und blieben mit ihm gegenüber von Alec stehen.
Es war Thero.
Alecs Erleichterung darüber, ihn zu sehen, währte jedoch nur kurz. Das Antlitz des jungen Zauberers unter den Eisenbändern des Zaums präsentierte sich ebenso ausdruckslos wie zuvor, in den großen, blicklos starrenden Augen glomm Wahnsinn. Unmittelbar hinter ihm stand ein grauhaariger Mann in unscheinbaren Roben; ein weiterer Totenbeschwörer, vermutete Alec.
Ashnazai kehrte zurück, gefolgt von zwei Marinesoldaten, die auf Tragestangen eine große Truhe herbeischleppten. Sowohl die Kiste als auch die Stangen waren mit Gold und fremdartigen Symbolen überzogen und wurden vor dem Dyrmagnos abgestellt. Während die anderen zu singen begannen, öffnete Ashnazai die Truhe und hob ein Kristalldiadem heraus, das im Sonnenlicht funkelte.
»Siehe die Krone«, stimmte der Totenbeschwörer ehrfürchtig an und legte sie vor Irtuk Beshar auf das Segeltuch.
Der Anblick versetzte Alecs Herz einen heftigen Stich. Dies war zweifellos der geheimnisvolle Gegenstand, den zu finden Seregil für Nysander sein Leben aufs Spiel gesetzt hatte.
Als nächstes holte Ashnazai eine Schale aus grob gebranntem Lehm heraus und stellte sie in die Krone. »Siehe die Schale!«
Als letztes folgte eine Schleife aus goldenem Draht, auf die mehrere Holzscheiben gefädelt waren. »Siehe die Augen des Seriamaius!«
Unwillkürlich stöhnte Alec auf, als der Dyrmagnos begann, die Scheiben nacheinander in die Schüssel zu legen.
Mardus wandte sich an Alec. »Gewiß hast du die Scheiben erkannt. Bedenke, hättet ihr nicht eine davon gestohlen, stünden weder der arme Thero noch du jetzt hier. All die vergeudeten Leben, all die Zerstörung, Alec, nur wegen dieser einen, unbedachten Tat. Ah, jetzt hätte ich fast vergessen, daß es ja Seregil war, der den eigentlichen Diebstahl beging. Das hast du Irtuk
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