Schattengilde 02 - Der Gott der Dunkelheit
sich mit dem Stab erkundete und sie sicher an tiefen Spalten vorbeiführte, die dicht unterhalb der trügerisch ebenmäßigen Oberfläche verborgen lagen. Doch so froh Seregil darüber war, immer wieder schaute er beunruhigt hinauf zu den Tonnen Schnee und Eis, die bedrohlich an den Berghängen über ihnen prangten.
Als sie sich dem höchsten Punkt des Passes näherten, übernahm Turik die Führung.
»Wir sind fast da«, verkündete er letztlich und blieb stehen, so daß Seregil zu Atem kommen konnte.
Sie quälten sich eine letzte, steile Eisfläche empor, dann hielt Turik abermals inne und blickte suchend die Bereiche ab, wo die Gletscherzunge und der Fels aufeinandertrafen. Nachdem seine Augen mehrmals die Gipfel hinaufgewandert waren und er heftig mit dem Stock umhergetastet hatte, hob der junge Dravnier die Hand und winkte den anderen.
Die Öffnung zu dem Tunnel war mit Eiszapfen verhangen und halb unter Schnee begraben, so daß sie an einen mürrischen Mund mit scharfen Zähnen erinnerte. Mit Händen und Schneeschuhen gruben sie drauflos. Bald lag die Öffnung frei, und sie spähten in den steilen, schwarzen Tunnel, der sich durch das Eis hinabzog.
Seregil spürte ein merkwürdiges Kribbeln in den Händen und am Rücken, als er sich über den Schlund beugte; eine mächtige Magie lauerte dort unten.
»Der erste Teil des Weges ist rutschig«, warnte Turik und zog einen Beutel Asche aus dem Rucksack. »Wir müssen das hier ausstreuen, sonst ist es nahezu unmöglich, später wieder hinauszuklettern.«
»Von hier an muß ich allein gehen«, erklärte ihm Seregil. »Wohl ist meine Magie stark, dennoch darf ich mich nicht ablenken lassen, indem ich mir um euch beide Sorgen mache. Wartet hier auf mich. Sollte ich noch nicht zurück sein, wenn die Sonne den Gipfel dort berührt, dann könnt ihr nach mir suchen, aber nicht vorher. Falls euer Geist mich tötet, gebt ihr meinen ganzen Kram Retak und sagt ihm, daß er ihn nach seinem Gutdünken verteilen soll.«
Bei der letzten Äußerung weiteten sich Turiks Augen zwar, doch weder er noch Shradin erhoben Einwände.
Seregil nahm den hinderlichen Hut ab und band sich das lange Haar mit einem Lederriemen zurück. Dann holte er den kleinen Leuchtstab aus dem Werkzeugbeutel, klemmte sich den Griff zwischen die Zähne und schlang sich einen Aschesack sowie die klobige Schatulle über die Schulter.
»Möge Auras Glück mit dir sein«, sagte Shradin ernst, wobei er die Aurënfaie-Bezeichnung für Illior verwendete.
Hoffen wir’s, dachte Seregil beunruhigt, als er mit dem Abstieg begann.
An manchen Stellen erwies sich der Tunnel als eng und glatt wie Glas. Ununterbrochen Asche vor sich ausstreuend, kroch Seregil hinab und zog die Schatulle hinter sich her. Als das Eis endlich einem flacheren Steintunnel wich, war er von Kopf bis Fuß verschmiert.
Die Magie, die den Ort erfüllte, wurde stärker, je tiefer er in die Höhle vordrang. Das unheimliche Kribbeln, das er zuerst bemerkt hatte, fühlte sich zunehmend unangenehm an. In seinen Ohren dröhnte ein tiefes Summen, und er spürte, wie hinter seinen Augen Schmerzen zu pulsieren begannen.
»Aura Elustri málrei«, flüsterte er. Er sprach diese Beschwörung Illiors laut aus, um zu sehen, ob sie etwas bewirkte. Die Stille verschlang die Worte ohne Echo, und das Kribbeln in seinen Gliedern hielt unvermindert an.
Der Tunnel endete in einer natürlich gewachsenen Kammer, die kaum größer als der Durchgang selbst war. An der gegenüberliegenden Wand erblickte Seregil die Scherben einer zerbrochenen Schüssel.
Der unaufhörliche Lärm, der ihm in den Ohren hallte, gestaltete es schwierig, sich zu konzentrieren, als er den Ort einer gründlichen Durchsuchung unterzog. Es war kein gleichbleibender Ton, sondern ein ständig an und abschwellender. Mitunter vermeinte Seregil, hinter dem übrigen Getöse leise Stimmen zu vernehmen, doch er tat dies als Einbildung ab.
Nachdem er endlich zufrieden festgestellt hatte, daß es keine weiteren verborgene Tunnel gab, vergrub er die eiskalten Hände in den Manteltaschen, hockte sich nieder und ging die wenigen Hinweise durch, die er besaß.
»Kristallhörner unter Steinhörnern. Stein in Eis in Stein in Eis«, hatte in dem Palimpsest gestanden.
Mit gerunzelter Stirn sah sich Seregil um. Nun ja, ich befinde mich eindeutig unter Steinhörnern. Und um hierherzugelangen, mußte ich zunächst durch Eis, dann durch Stein.
Somit blieb noch Stein in Eis zu durchschreiten, aber wo?
Weitere Kostenlose Bücher