Schattengilde 02 - Der Gott der Dunkelheit
etwas unternehmen. Ihr solltet euch ausruhen, solange ihr noch könnt. Ich fürchte, morgen werdet ihr dazu kaum Gelegenheit bekommen.«
Damit zeichnete er rings um die Kiefer einen Kreis, hockte sich auf der gegenüberliegenden Seite des Stammes hin und schloß die Augen.
Am nächsten Morgen erwachte Alec kurz vor Sonnenaufgang und war überrascht, wie gut erholt er sich fühlte. Von der Reise des vergangenen Tages waren ihm zwar ein paar Kratzer und Schrammen geblieben, doch er nahm sie kaum wahr.
Seregil schlief dicht neben ihm, einen Arm unter den Kopf geschoben, den anderen nach Alec ausgestreckt. Sein Antlitz präsentierte sich windgegerbt, in dem langen, dunklen Haar hatten sich Kiefernnadeln verfangen, doch das schien die eigenartige Schönheit seines Freundes nur noch zu fördern.
Ich habe ihn geküßt! dachte Alec in einem plötzlichen Anflug quälender Scham. Inmitten all der Schrecken, die sie bereits hinter sich hatten und die ihnen heute bevorstanden, hatte er Seregil geküßt. Seinen Lehrer. Seinen Freund. Seinen – was? Schlimmer noch, säße Nysander nicht ein paar Schritte entfernt, wäre er versucht gewesen, es neuerlich zu tun.
Darüber darf ich mir jetzt nicht den Kopf zerbrechen, stöhnte er innerlich, während seine Wangen flammendrot anliefen. Es war nicht so, daß er es bedauerte. Er wußte nur noch nicht, was es bedeutete, oder was er wollte, daß es bedeutete.
Er setzte sich auf und sah, daß Micum bereits aufgebrochen war. Nysander hockte auf der anderen Seite des Baumes und rührte sich nicht, als Alec zu dem Stapel Rucksäcke hinüberging. In Seregils Bündel fand er eine Ersatzhose und ein Paar niedriger Stiefel, dann wandte er die Aufmerksamkeit seinem Bogen zu.
Er spannte ihn und tastete auf der Suche nach ausgefransten oder durchgescheuerten Stellen behutsam die Sehne ab. Nach so vielen Wochen, in denen sie nicht benutzt worden war, mußte sie wieder einmal gewachst werden.
In seinem Köcher hatte sich ein Beutel mit Klammern befunden, doch er sah ihn nirgends bei der übrigen Ausrüstung. Er schaute sich um und erblickte ihn am Boden neben Nysander. Neben den rot befiederten Pfeilen enthielt der Köcher nunmehr vier frisch mit weißen Schwanenfedern versehene. Alec ergriff den Köcher, berührte eines der steifen, weißen Blätter und spürte das heftige Kribbeln von Magie am Finger. Hastig riß er die Hand zurück, dann zog er den Pfeil behutsam aus dem Köcher, um ihn eingehender zu betrachten. Der Schaft war von der Spitze bis zum Ansatz mit winzigen, verschlungenen, mit blauer Tinte gemalten Symbolen übersät.
»Kein Zauber vermag das Können deiner Hand und deines Auges zu verbessern«, murmelte Nysander mit nach wie vor geschlossenen Augen, »aber diese vier Pfeile sind mit einem Bann versehen, der die Haut des Dyrmagnos durchdringt. Sobald der Helm vollständig zusammengesetzt ist, muß Irtuk Beshar dein erstes Ziel sein. Schau und ziel auf niemand anders, bis einer der Pfeile sie getroffen hat. Selbst meine Magie kann sie nicht töten, aber sie wird sie schwächen, während wir angreifen. Schieß ihr wenn möglich ins Herz.«
»Darauf kannst du dich verlassen«, erwiderte Alec mit entschlossener Miene. Den Jungen von einst, der gezögert hatte, als er das erste Mal auf einen Menschen zielte, gab es längst nicht mehr. Er berührte den Pfeilansatz und stellte sich vor, wie er sich vor dem Abfeuern an der gespannten Sehne anfühlen würde.
Ich hoffe, ich sehe ihr Gesicht, wenn er sie trifft.
Seregil richtete sich auf und kämmte sich mit den Fingern Kiefernnadeln aus dem Haar. »Haben wir irgend etwas von unseren Nachbarn gehört?«
»Schon eine ganze Weile nicht mehr«, antwortete Nysander, schlug die Augen auf und streckte sich. »Micum ist vor kurzem aufgebrochen, um ihr Lager zu erkunden.«
Seregil spähte durch die Kiefernzweige. »Ich glaube, ich sehe mir noch mal den Tempel an, bevor zu viele Leute in der Gegend herumschwirren. Was ist, Alec, hast du vor dem Frühstück Lust auf einen kleinen Spaziergang?«
Die beiden hielten aufmerksam nach Wachposten Ausschau, als sie sich einen Weg zur Nordseite der Bucht bahnten.
»Dafür waren diese Löcher also«, murmelte Seregil, während er durch das Unterholz das Tempelgelände betrachtete.
In die geheimnisvollen Löcher, die das trockene Becken oberhalb der Riffs säumten, waren dicke Holzpfähle gestellt worden. Ein paar Männer waren immer noch damit beschäftigt, das Gebiet von Geröll zu
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