Schattengilde 02 - Der Gott der Dunkelheit
Zufall am Werk sein mußte.
Er hielt inne und stand wie schon sooft vor jenem vertrauten Mauerabschnitt. Rasch vergewisserte er sich ein letztes Mal, daß keine Augen, natürlicher oder übernatürlicher Art, auf ihn gerichtet waren, dann sprach er einen mächtigen Schlüsselzauber und sandte durch die Steinwand und den Beschwörungsschutzschild einen magischen Blick in den kleinen, dahinter verborgenen Raum.
Eingekerkert in Jahrhunderte währende Dunkelheit, stand die Schale auf dem einzigen Regal der winzigen Kammer. Für Uneingeweihte stellte sie lediglich ein grob gearbeitetes Gefäß aus gebranntem Lehm dar, in jeder Hinsicht unscheinbar. Dennoch hatte dieser schlichte Gegenstand Nysanders gesamtes Erwachsenendasein sowie jenes dreier Magier vor ihm beherrscht.
Die Hüter.
Auf einer Seite neben der Schale lag die Kristallkassette, in der sich die Scheibe befand; auf der anderen die niedrige, immer noch mit der Asche dravnischer Kochfeuer verschmierte Holzschatulle mit der Krone darin.
Allein aus Neugier sprach Nysander den Durchgangszauber und betrat die Kammer.
Trotz aller Schutz- und Unterdrückungszauber knisterte rings um ihn unheilverkündend Magie. Er holte einen Lichtstein aus der Tasche, hielt ihn hoch, betrachtete eine Weile mit ernster Miene die Schale und dachte abermals an seine Vorgänger. Keiner von ihnen, nicht einmal Arkoniel, hätte je zu träumen gewagt, dem Inhalt dieser verborgenen und strengst gehüteten Kammer etwas hinzuzufügen. Ihm war es gleich zweimal gelungen, und das gemeinsame Lied der Gegenstände glich einer pulsierenden, lebendigen Kraft.
Seine Hände wanderten zu den Behältnissen beiderseits der Schale. Wie würde das Lied wohl klingen, wenn ich die beiden Kästchen öffnete und nur diese drei Bruchstücke ohne den Rest vereinigte? Was ließe sich aus einem solchen Versuch erfahren?
Sein rechter Daumen legte sich auf den Verschluß der Holzschatulle, rieb zögernd daran und …
Nysander zuckte zurück, zeichnete ein Schutzzeichen in die Luft und verschwand auf dem Weg, den er gekommen war. Draußen im Korridor knipste er den Durchgangszauber aus und sank an der gegenüberliegenden Wand zusammen, während sein Herz bedrohlich heftig in der Brust pochte.
Wenn schon drei Bruchstücke des Ganzen derartige Gedanken in seinen Verstand pflanzten, dann mußte er um so wachsamer sein.
In deinen Verstand gepflanzt, alter Mann? rügte ihn eine nörglerische, innere Stimme. Oder dort enthüllt? Wie oft hat dich Arkoniel davor gewarnt, daß Versuchung nur der dunkle Spiegel deiner Seele sei?
Unvermeidlich folgte auf die Erinnerung Bedauern. Arkoniel hatte ihn gut und früh in die Verantwortung der Hüter eingeführt und sich selbst somit gestattet, die Last des Geheimnisses zu teilen, das sie bewahrten. Mit wem teilte er es?
Mit niemandem.
Seregil hätte er vertrauen können, aber ihm fehlte die Magie. Thero besaß die Magie, ihm jedoch fehlte – was?
Demut, beschloß Nysander traurig. Demut, um die Macht angemessen zu fürchten, die in dieser winzigen, mit Silber ausgekleideten Kammer schlummerte. Je augenscheinlicher Theros Fähigkeiten im Lauf der Jahre seiner Lehrzeit zutage traten, desto überzeugter war Nysander, daß Versuchung den jungen Mann dereinst in den Untergang stürzen würde. Versuchung und Stolz.
Mit einem Schlag fühlte sich Nysander wesentlich älter als seine zweihundertneunundachtzig Jahre. Er drückte eine Hand auf die Mauer und verstärkte die Schutzbeschwörungen, veränderte und polsterte sie, um zu verbergen, was verborgen bleiben mußte. Einst hatte er gedacht, er würde diese Aufgabe weitergeben, so wie sein Meister sie an ihn weitergegeben hatte. Im Augenblick empfand er dies als keineswegs gewiß.
12
Bekas Aufbruch
Eines strahlenden Nachmittags gegen Mitte des Dostin saßen Seregil und Alec müßig über einem späten Mittagessen, als Runcer mit einem zerlumpten, jungen Mädchen im Schlepptau den Raum betrat. Erwartungsvoll schaute Seregil auf, da er auf den ersten Blick erkannte, daß es sich um jemanden handelte, der sich sein Leben als Überbringer von Nachrichten verdingte.
»Beka Cavish läßt ausrichten, daß die Reiterei der Königin morgen früh bei Sonnenaufgang aufbricht«, leierte das Mädchen tonlos herunter.
»Danke.« Seregil gab der jungen Frau eine Mark und schob ihr einen Teller mit Süßigkeiten hin. Grinsend ergriff sie eine Handvoll und ließ sie in den Falten ihres abgetragenen Rockes
Weitere Kostenlose Bücher