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Schattengilde 03 - Unter dem Verrätermond

Titel: Schattengilde 03 - Unter dem Verrätermond
Autoren: Lynn Flewelling
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nachzuschenken, blieb aber dann am Herd stehen und schwenkte den unangetasteten Inhalt seines Glases. Je näher er dem Kern der Sache kam, desto schwerer fiel ihm das Erzählen.
    »Ich nehme nicht an, dass ich je viel über meine Kindheit erzählt habe.«
    »Nicht viel, nein«, stimmte Alec zu, und Seregil fühlte den Unmut hinter seinen neutralen Worten. »Ich weiß, dass du deine Mutter nie kennen gelernt hast, und einmal hast du kurz erwähnt, dass du außer Adzriel noch drei Schwestern hast. Warte, das waren Shalar, Mydri und – wie hieß noch die Jüngste?«
    »Ilina.«
    »Ilina, richtig. Und Adzriel hat dich aufgezogen.«
    »Nun, sie hat ihr Bestes gegeben. Ich war als Junge wohl ziemlich wild.«
    Alec lächelte. »Ich wäre eher überrascht, wenn du das Gegenteil behauptet hättest.«
    »Wirklich?« Seregil war für diese kurze Neckerei dankbar. »Meinem Vater hat das nicht besonders gefallen. Im Grunde kann ich mich kaum erinnern, dass ihm überhaupt etwas an mir gefallen hat, außer meiner musikalischen Begabung und meinem geschickten Umgang mit dem Schwert, und selbst das war ihm meistens nicht gut genug. Während der Zeit, von der ich spreche, bin ich ihm im Allgemeinen aus dem Weg gegangen.«
    »Diese Versammlung führte uns wieder zusammen, und zuerst habe ich mich nach Kräften bemüht, mich zu benehmen. Dann traf ich einen jungen Mann namens Ilar.« Schon bei der Erwähnung des Namens spürte er ein Ziehen in der Brust. »Er war gutaussehend und ungestüm, und er hatte stets eine Menge Zeit, mit meinen Freunden und mir auf die Jagd oder zum Schwimmen zu gehen. Er war beinahe erwachsen, und wir alle waren durch seine Aufmerksamkeit ganz furchtbar geschmeichelt. Ich war von Anfang an sein Liebling, und nach einigen Wochen fingen wir beide an, uns davonzustehlen, wann immer sich die Gelegenheit bot.«
    Er nippte an seinem Becher und sah, dass seine Hand zitterte. Diese Erinnerungen hatte er über Jahre tief vergraben, doch mit einer einzigen Erzählung drangen all die alten Gefühle wieder an die Oberfläche, und sie waren so frisch wie in diesem lang vergangenen Sommer.
    »Ich hatte schon ein paar Liebeleien erlebt – Freundinnen, eine Cousine und so weiter –, aber nichts war mit dieser Erfahrung vergleichbar. Ich nehme an, man könnte sagen, er hätte mich verführt, aber soweit ich mich erinnere, hat es ihn nicht allzu viel Mühe gekostet.«
    »Du hast ihn geliebt.«
    »Nein!«, schnappte Seregil, während die Erinnerung an samtweiche Lippen und vernarbte Hände an ihm nagte. »Nein, nicht geliebt. Ich war blind vor Leidenschaft. Adzriel und meine Freunde versuchten, mich vor ihm zu warnen, aber da war ich schon so verblendet, dass ich alles für ihn getan hätte. Und am Ende habe ich das auch.«
    »Ironischerweise war Ilar der erste Mensch, der meine weniger anständigen Gaben entdeckte und förderte. Auch ohne Übung hatte ich geschickte Hände und einen Hang zum Trotz. Er dachte sich kleine Herausforderungen aus, um mich auf die Probe zu stellen – erst ganz harmlose, dann weniger harmlose. Ich hingegen lebte nur für seine Anerkennung.« Er warf Alec einen schuldbewussten Blick zu. »Beinahe so wie du und ich, damals, als wir uns kennen gelernt haben. Das ist einer der Gründe, warum ich dich so lange Zeit stets auf Armeslänge von mir gehalten habe: die Furcht, ich könnte auf dich einen so verderblichen Einfluss ausüben wie er auf mich.«
    Alec schüttelte den Kopf. »Zwischen uns war es anders. Aber sprich weiter. Beende deine Geschichte, und bring es hinter dich. Was ist passiert?«
    Weiser, als es seinem tatsächlichen Alter entspricht, dachte Seregil wieder einmal. »Nun gut. Einer der erbittertsten Gegner meines Vaters war Nazien í Hari, Khirnari des Haman-Clans. Ilar überzeugte mich, dass bestimmte Papiere in Naziens Zelt für die Pläne meines Vaters von Nutzen wären und dass ich allein geschickt genug wäre, mich hineinzuschleichen und sie zu ›borgen‹.« Er verzog das Gesicht, angewidert von der Erinnerung an die eigene Dummheit. »Also tat ich es. In jener Nacht waren alle bei irgendeinem Ritual, aber einer von Naziens Männer kam zurück und erwischte mich auf frischer Tat. Es war dunkel, und vielleicht hat er gar nicht gesehen, dass er seinen Dolch gegen einen Knaben zückte. Aber das Licht reichte, um das Aufblitzen seiner Klinge und das wütende Funkeln in seinen Augen zu erkennen. Voller Angst zog ich meine eigene Waffe und stieß zu. Ich wollte ihn nicht umbringen,
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