Schattengold
mit einem surrenden Geräusch auf die Schulter des Mädchens. Es zuckte zusammen.
»Du brauchst dich nicht zu fürchten. Es ist nur ein harmloses Spielzeug. Probier es aus: Es hört auf deine Befehle.«
Die Kleine drehte ihren Kopf vorsichtig zu dem Metallvogel und wisperte: »Sing mir ein Lied!«
Der Schnabel des Flugapparats öffnete sich und eine angenehme, exotische Flötenmelodie füllte den Raum.
»Toll!«, schwärmte das Mädchen, »kannst du auch einen Salto machen?«
Der Vogel sprang in die Luft und vollbrachte ein perfektes Kunststück. Dann befahl der Mann im Sessel dem Kind: »Komm näher zu mir! Streck deine Hand aus, damit der Vogel sich daraufsetzen kann. Er wird dir eine wunderschöne Geschichte erzählen. – Aber nur, wenn du die Augen zumachst!«
Dem Mädchen gefiel das, fühlte es sich doch an sein neues Lieblingsspiel erinnert: Wie eine Blinde vor einer Schaufensterscheibe stehen und Menschen erraten. – Es tat wie ihm befohlen und schloss die Augen. Der Raum schwirrte von geheimnisvollen Klängen. Das Surren und Ticken der elektrischen Apparate vermengte sich mit entferntem Straßenlärm, der nur ganz schwach an sein Ohr drang. Irgendwo in einem der Nachbarhäuser spielte jemand Klavier. Es klang sehr professionell. Jetzt gesellte sich die Stimme des Fremden hinzu. Er begann, in einer ihr unbekannten Sprache weiterzureden. Plötzlich näherte sich das kaum wahrnehmbare Schwingen von mechanischen Flügeln. Der Vogel nahm auf der Hand des Mädchens Platz.
Das Kind spürte kaum den leichten Schmerz, als der Vogel mit seiner Kralle in dessen Haut stach. Er reichte aber aus, um es zu veranlassen, die Augen wieder zu öffnen. Was es nun sah, überstieg alles Bisherige. Eine regenbogenfarbene Zauberwelt spiegelte sich in den weit aufgerissenen Pupillen.
Der Vogel nahm das Mädchen mit den Mandelaugen mit auf eine nie enden wollende Reise in das Paradies. Als letztes fühlte es ein tiefes Glück durch seinen Körper strömen.
*
Am nächsten Morgen entdeckte ein Jogger das Mädchen mit den Mandelaugen tot in einem Gebüsch am Ufer des Stadtgrabens nahe dem Holstentor, dem alten Stadttor. Spuren von Gewalt fand Inspektor Kroll nicht. Ein Sexualdelikt konnte er ausschließen.
Über der einen Hand des Mädchens hing ein kaum spürbarer bitterer Duft. Die Augen waren noch mandelförmiger als sonst. Sie schienen den Inspektor anzuschauen und ihm stumm zu verraten, dass dem Mädchen in seiner letzten Minute noch ein großes Glück widerfahren war. In der Hosentasche fand man eine kleine braune Holzkugel.
»Eine Murmel«, meinte der Assistent Hopfinger voreilig. »Wir sollten die umliegenden Spielplätze abklappern, vielleicht finden wir eine Spur«.
»Wenn Sie meinen – dann machen Sie es!«, erwiderte Kroll skeptisch.
Das Mädchen hielt Hanna immer noch in den Händen. So war das immer, wenn es seine Handpuppe um Rat fragen wollte. Aber das wusste der Inspektor natürlich nicht. Der schwache, bittere Geruch an der Hand der Kleinen machte ihn allerdings stutzig. Das passte nicht in sein Bild von einer unbeschwerten Kinderwelt. Vorsichtshalber gab er Hopfinger den Auftrag, die Leiche auf Giftspuren untersuchen zu lassen.
Die Obduktion zeitigte kein Ergebnis; von den bekannten Giften nicht den Schatten einer Spur.
Am nächsten Tag verbrachte Kroll seine Mittagspause am Stadtgraben. Unruhig streifte er durch die Parkanlagen. Er stellte sich vor, was er als Junge hier angestellt hätte. Natürlich war ihm klar, dass kleine Mädchen anders handelten. Aber zumindest versuchte er, sich in die Welt eines Kindes hineinzuversetzen, um mögliche Anhaltspunkte für den Ablauf seiner letzten Lebensstunden zu erhalten.
Er schlenderte langsam am Uferweg entlang. Auf dem Abenteuerspielplatz oben auf den Wallanlagen tobten ein paar Fußball spielende Jungen. Plötzlich fiel Kroll ein Ball vor die Füße. Die Burschen schauten ihn erwartungsvoll an. Der Inspektor fühlte sich um 40 Jahre jünger und kickte den Ball im hohen Bogen zurück. Anerkennender Beifall.
Aber Kroll war sich bewusst, dass er sich eigentlich in die Psyche eines kleinen Mädchens versetzen sollte. Er kehrte zum Fundort der Leiche zurück, entdeckte ganz in der Nähe eine etwas verrottete Parkbank und ließ sich seufzend nieder.
Ein paar graue Tauben näherten sich vorsichtig und bettelten nach Futter. Der Inspektor, der in seinem verknitterten Mantel wie eine vergessene Bücherlehne auf der Parkbank saß, hatte aber nichts
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