Schattengold
Beifallgegröle.
Kroll achtete nicht weiter darauf, sondern ging langsam quer durch die Büsche am Ufer entlang in Richtung Holstentor, das von oben grüßte. Unterhalb der Böschung zur Stadtbrücke stutzte er. Unter dem wilden Gestrüpp verbarg sich eine mannshohe, rostige Eisenklappe. Wahrscheinlich ein Zugang zur unterirdischen Kanalisation oder der Eingang zu einem Wartungskeller für die Brücke, dachte er. Ich werde Hopfinger darauf ansetzen. Vielleicht hat das irgendwie mit dem Tod des kleinen Mädchens zu tun. – Und Frau Grell soll in den alten Stadtarchiven stöbern, ob es irgendeine Notiz über unterirdische Gänge gibt. – Die Suche nach dem Ursprung der kleinen braunen Holzkugel werde ich besser selbst übernehmen.
Er stellte seinen rechten Fuß auf eine Parkbank. Wieder einmal hatte sich ein Schnürsenkel gelöst. Dann machte er sich auf in Richtung Büro.
Frau Grell hatte keinen Erfolg. Erstens konnte sie die Schrift in den alten Dokumenten nur mit Mühe entziffern. Hätte man sich damals doch bloß einer Schreibmaschine bedient! Aber selbst wenn sie die Buchstaben lesen konnte, konnte sie mit der altdeutschen Sprache nur wenig anfangen. Nach wenigen Ansätzen gab sie enttäuscht auf. Dafür nahm sie sich umso mehr Zeit, den jungen Archiv-Assistenten auf die Erfahrungen des Lebens vorzubereiten.
Hopfinger fand heraus, dass das Tiefbauamt zwar von der Existenz des Stolleneingangs wusste, der zuständige Referent versicherte jedoch, dass der Gang seit Menschengedenken nicht mehr benutzt worden sei. Er ging davon aus, dass er als Überbleibsel aus der Bauzeit der Brücke über den Stadtgraben zur Trockenlegung der Trasse diente.
Inspektor Kroll gab nicht auf. Auch wenn der Obduktionsbericht ergebnislos ausgefallen war, so schnell stirbt ein kleines Mädchen nicht. Außerdem konnte er den befremdlichen, bitteren Geruch nicht vergessen, der selbst den erfahrenen Polizeichemikern ein Rätsel blieb. Er bemühte sich vergebens, das Geheimnis um die kleine braune Holzkugel zu lüften.
Dabei spürte er deutlich, der Lösung des Falls ganz dicht auf der Spur zu sein. Weder die Eltern des Kindes noch die Spielfreundinnen kannten die Kugel. Und in der Nähe des Fundorts der Leiche gab es ebenfalls keine Anhaltspunkte.
Die murmelähnliche Kugel bekam, zusammen mit der Glasmurmel, die er neben der Parkbank gefunden hatte, einen Ehrenplatz auf Krolls Schreibtisch. Beide erinnerten ihn täglich daran, dass noch eine Rechnung zu begleichen war. Er musste wieder einmal darauf vertrauen, dass die Zeit für ihn arbeitete. Auf den Gedanken, den mysteriösen Tod des Küsters mit dem ebenso merkwürdigen Ableben des kleinen Mädchens in Verbindung zu bringen, kam er erst viel später.
Kapitel 5: Le Rossignol
Das Haus lag an einer breiten Durchgangsstraße, die unten vom Haupttor der Stadt hoch zum Marktplatz mit dem historischen Rathaus führte. Viele Passanten blieben gern vor der prachtvollen Bürgerfassade stehen, bewunderten das auffällige, barocke Sandsteinportal mit der Messingtafel ›Adrian Ampoinimera, Goldschmied und Uhrmacher‹. Und den hübschen Staffelgiebel. Oder schauten neugierig in die verlockenden Auslagen der Schaufenster zu beiden Seiten des Eingangs.
Über dem linken stand in großen Lettern ›Goldschmiede‹. Jemand hatte die Vitrine geschmackvoll mit wertvollen Colliers, Ringen, Anhängern und Armreifen dekoriert. Manches davon schien aus einer orientalischen Werkstatt zu kommen, aber alles stammte von Meister Adrian.
Die Vitrine auf der anderen Seite mit der Überschrift ›Uhrmacherei‹ stach nicht so stark ins Auge. Die etwas angestaubte, riesige Standuhr mit einem Orgelwerk und dem Pendelkasten aus Mahagoni fristete ein wenig beachtetes Dasein, als sei sie der gescheiterte Versuch, die physikalische Zeit mit der Musik, der erlebten Zeit, zu versöhnen.
Ebenso erging es der seltenen Fünf-Minuten-Uhr, die früher einmal im Stadttheater gehangen hatte und die mit ihren zwei Zahlenfeldern jeweils den Ablauf von fünf Minuten sowie die Stundenzahl anzeigte, als wollte ihr Erschaffer den gewohnten Zeitlauf der Stadt überlisten. Der Mechanismus bestand aus zwei Messingtrommeln, zwischen denen das Räderwerk und ein kleines Pendel angebracht waren.
Als Blickfang stand vorn in der Mitte des Schaufensters eine aus vergoldeter Bronze gefertigte Directoire-Uhr. Ein Harlekin mit schwarzem Gesicht und einem Säbel am Gürtel hielt in der einen Hand eine Kuckucksuhr hoch. Mit der
Weitere Kostenlose Bücher