Schattengold
anderen zeigte er schelmisch auf den Vogel, als ob er sich über den Lauf der Welt lustig machen würde. Zur vollen Stunde konnte er diesen Arm bewegen und dazu weise mit dem Kopf nicken.
Das Besondere an der Uhr bestand darin, dass ihre Zeiger rückwärts liefen. Einem Ungeübten fiel es schwer, die Uhrzeit korrekt abzulesen. Wollte sich auch hier der Uhrmacher über die Bürger mokieren?
Natürlich gab es außerdem goldene Taschenuhren, moderne Wecker und quarzgesteuerte, komplizierte Armbanduhren. Ein Marinechronometer in einem Gehäuse aus Palisander stand in einer Ecke neben einer aus Messing und Eisen gefertigten Wanduhr in Laternenform. Die ganze Vitrine hinterließ den Eindruck, als sei die Zeit hier zu Hause, als sei der Uhrmacher der Herr der Zeit.
In dem Gästebuch, das im Eingangsbereich des Hauses auf einem kleinen, schön verzierten Tisch lag, konnte man als Widmung auf der ersten Seite lesen:
›Gold ist Sternenstaub. Gold ist außerirdisch, doch sein Glanz ist Schein. – Vielleicht ist das der Grund, warum wir Menschen uns vorgaukeln, Gold sei unvergänglich.
Nur das Gold, das den Göttern gewidmet ist, überdauert.
Uhren stehen für Zeit. – Jede Zeigerbewegung mahnt den Menschen an seine Sterblichkeit.
Goldene Uhren sind der Versuch, Ewigkeit und Vergänglichkeit miteinander zu versöhnen.
Vanitas. – Sie zeigen, dass wir unsere Lebenszeit letzten Endes nicht selbst bestimmen.
Nur die Zeit der Götter währt unendlich.‹
Als vor Jahren der Physiklehrer der Oberschule seiner Frau einen neuen Ring kaufte, konnte er es sich nicht verkneifen, in das Gästebuch einen schulmeisterlichen Zusatz einzutragen: »Richtig. Gold entsteht nicht auf unserer Erde, es bildet sich bei einer Supernova oder durch Gammastrahlungsausbrüche bei der Kollision zweier Neutronensterne.«
So erklärte der Physiker die wesentlichen Dinge des Lebens.
Obwohl nur selten Kunden einen der beiden Läden betraten, schien es für Herrn Ampoinimera ein einträgliches Geschäft zu sein. Seine Familie wohnte in einer der ersten Adressen der Stadt, sie konnte sich ein ausgiebiges Luxusleben leisten und verkehrte in der besten Gesellschaft.
Und das, obwohl sie erst wenige Jahre in Lübeck weilte. Der Pastor meinte zu wissen, sie käme aus Peru oder irgendeinem anderen lateinamerikanischen Land, wo sie in einem Goldbergwerk zu Reichtum gelangt war. Das würde auch den folkloristischen Einschlag in der Goldschmiedekunst Adrians erklären. Die Nachbarn schlossen sich der Ansicht des Pastors an. Das war am bequemsten so.
Adrians Frau Rana spielte ausgezeichnet Klavier, und man engagierte sie gern als Lehrerin für die höheren Töchter. Außerdem genoss sie einen guten Ruf sowohl an der Musikhochschule als auch am Stadttheater, wo man sie als Korrepetitorin schätzte. Ihren Schülern schrieb sie gewöhnlich ins Poesiealbum: ›Musik ist der Sieg des Menschen über den Flug der Zeit.‹
Insofern passte das Ehepaar Ampoinimera gut zusammen.
Der Sohn Radamo galt als Favorit der Damenwelt der Nachbarschaft. Er sah blendend aus, kleidete sich stets geschmackvoll und elegant und hatte gute Umgangsformen, auch wenn sich seine Konversation bisweilen nur auf die Wiedergabe allgemeinhöflicher Floskeln beschränkte.
Es sprach sich herum, dass er außerordentlich gut Flöte spielte. Auch betätigte er sich als Aushilfsorganist in der Marienkirche.
Keiner der benachbarten Damen war es bisher gelungen, privat mit ihm unter vier Augen auch nur eine Minute zu verbringen. Aina wusste das, kam aber mit anderen Absichten. Heute wollte sie die Einladung von neulich wahrnehmen. Frau Ampoinimera hatte ihr kürzlich in der Musikhochschule ein paar Noten zum Üben gegeben.
Léo Delibes’ ›Le Rossignol‹ für Gesang, Flöte und Klavier.
»Das ist zwar sehr schwer, aber Sie werden es schon schaffen, meine kleine Nachtigall. Übrigens werde ich mich beim Opernleiter des Theaters für Sie verwenden. Er ist mir zu Dank verpflichtet. Da kann er Sie ruhig mal vorsingen lassen.«
Die junge Sängerin schritt ein wenig aufgeregt durch das Sandsteinportal und blätterte in dem Gästebuch. Die Sache mit dem Sternenstaub ging ihr durch den Kopf.
»Wäre ich wirklich ein Adoptivkind – wäre ich dann nicht auch so etwas wie Sternenstaub?«
Ihr Physiklehrer hätte in seiner nüchternen Art sicherlich erwidert: »Richtig. Alle Elemente in deinem Körper, die schwerer sind als Eisen, stammen aus fernen Sternkatastrophen im Weltall.«
Die
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