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Schattengold

Schattengold

Titel: Schattengold Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Buehrig
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lauschten dem Wettstreit der Nachtigallen.
    Mit einem zarten Nachspiel von Flöte und Klavier klang das Stück aus. Rana stand schweigend auf und ging versonnen zur Tür, um den Klingelzug zu betätigen. Dann kam sie auf Aina zu, die noch ganz im Bann der letzten Klänge stand, und umarmte sie.
    »Du bist wundervoll, meine Nachtigall. Selten habe ich Musik schöner erlebt. Die kleinen Patzer zählen nicht. – Aber mit Radamos Leistung bin ich noch nicht zufrieden.«
    Ohne weitere Worte verschwand sie schnellen Schrittes durch die Tür, ohne sich um ihren Sohn zu kümmern, der weiterhin regungslos mit der Flöte in der Hand neben dem Flügel stand.
    Er schaute Aina mit seinen hypnotischen Augen an, ohne etwas zu erwidern. Erst jetzt fiel ihr auf, dass Radamo überhaupt nicht blinzelte. Nur wenige Sekunden später erschien die Zofe.
    »Ich werde Sie hinausbegleiten, gnädiges Fräulein.«

     
    *

     
    Aina hatte kaum noch Zeit, sich nach Radamo umzudrehen, um sich ihrerseits für das schöne Konzert zu bedanken und sich zu verabschieden. Die Zofe führte sie hinunter in die Diele.
    Dort hantierte Raik, der Geselle, immer noch an einem der Uhrengestelle herum. Er schien sich überhaupt nicht für seine Umwelt zu interessieren. Verwirrt schlich sich Aina an ihm vorbei und verschwand durch die offene Eingangstür.
    Raik blickte ihr aus den Augenwinkeln hinterher.
    Sie bemerkte auch nicht, dass ihr die Kammerzofe Ria mit einem nicht gerade freundlichen Blick nachschaute, bis sie um die nächste Straßenecke verschwunden war.
    Die Sonne wärmte die Bürgersteige. Sogar ein Schmetterling hatte sich in die engen Gassen verirrt. Vor der Bäckerei an der Ecke – aus Gründen des Brandschutzes durfte seit jeher dieses Gewerbe nur in Eckhäusern betrieben werden – standen zwei Hausfrauen mit frisch riechendem Brot unter dem Arm und schwatzten über ihre Allerweltssorgen.
    Aina fühlte sich in dieser Atmosphäre wohl. Sie liebte ihre Kleinstadt, obwohl sie, je älter sie wurde, immer mehr das Bedürfnis nach einem Leben in einer anderen Welt verspürte.
    War das nur der verständliche und notwendige Wunsch eines jeden Heranwachsenden, dem Elternhaus zu entfliehen, oder steckte mehr dahinter? Aina wusste keine Antwort auf ihre Frage. Einerseits fühlte sie sich als Glied dieser Gemeinschaft, andererseits spürte sie, dass sie anders war. Irgendetwas anderes, Höheres verbarg sich in der Zukunft, davon war sie überzeugt. Doch was war es?
    Ihr fiel ein kleines Märchen ein, das sie kürzlich im Internet gefunden hatte, von dem sie meinte, es würde zu ihrer momentanen Situation passen.

     
    ›Warum die fünf Finger sich getrennt haben.
    Jeder Finger, so heißt es, hatte seine eigenen Gedanken. Und zwar war das folgendermaßen:
    Der kleine Finger sagte: »Ich bin so hungrig.«
    Darauf meinte der Finger, der ihm am nächsten war: »Wenn du so hungrig bist, geh und stiehl dir etwas, womit du deinen Hunger stillen kannst!«
    Da rief der übernächste Finger: »Bring reichlich mit, denn wir möchten auch etwas abhaben.«
    Darauf sagte der Zeigefinger: »Ich glaube, diese Burschen geben dem Kleinen schlechten Rat. Wird man nicht bestraft, wenn man stiehlt?«
    Der Daumen aber schalt: »Ich verstehe das Geschwätz dieser Gesellen nicht. Weil sie Unrecht planen, wende ich mich ab von ihnen. Denn ich bin rechtschaffen.«
    Seht Ihr, dies war die Ursache für die Trennung der fünf Finger, wobei der Daumen den restlichen Fingern entgegensteht.‹

     
    Natürlich war dieser Vergleich übertrieben, das wusste Aina. Ihre Eltern planten kein Unrecht, wohl aber spürte sie, dass es ihr gegenüber vielleicht gerechter gewesen wäre, sie hätten sie über ihre Herkunft aufgeklärt. Sie konnte den Wunsch der Eltern nach einem eigenen Kind verstehen. Und Aina ahnte, dass es ihnen nicht vergönnt war, ein leibliches Kind zu haben. Ihren ›Hunger‹ nach einer vollständigen Familie aber hätten sie nicht so selbstverständlich, so unausgesprochen stillen dürfen.

     

     

Kapitel 6: Schattengold

    Das Ehepaar Sánchez-Ruiz aus der spanischen Stadt Girona besuchte Lübeck regelmäßig, seit es die neue direkte Flugverbindung zwischen beiden Orten gab. Fernando liebte das mittelalterliche Ambiente der Hansestadt, während Ángela gern durch die kleinen Geschäftsgassen flanierte, die rund um den Marktplatz zu beiden Seiten um den buckelförmigen Stadtkern herunterführten.
    »¡Qué precioso!«, kommentierte Fernando das Heiliggeisthospital, ein

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