Schattengold
ich von Frau Ampoinimera weiß. Er liebt die Musik.
In dieser Beziehung habe ich ihm leider nichts zu bieten.
Wie kann ich es nur anstellen, dass er mich einmal zu einem Kinobesuch einlädt?
Dann könnte ich ihm zeigen, was in mir steckt. – Aber wenn ich ehrlich bin, habe ich das unbestimmte Gefühl, dass er gar nichts von mir wissen will. Wahrscheinlich findet er mich zu alt. Dabei fühle ich mich überhaupt nicht als ›alte Schachtel‹. Ich denke, dass ich trotz meiner 35 Jahre recht attraktiv bin. Meine Brüste sind noch ganz fest und die paar Falten unter den Augen sieht man nur, wenn ich ungeschminkt bin. – Warum muss ich mich auch immer nur in jüngere Männer verknallen?
Bei der gnädigen Frau fühle ich mich wohl. Sie ist immer sehr aufmerksam mir gegenüber und verzeiht mir auch mal den einen oder anderen Fehler.
Ihr Klavierspiel bringt mich immer ins Träumen, dann vergesse ich schnell irgendeine Pflicht.
Ich glaube, im Inneren ihres Herzens ist sie gut. Komisch ist allerdings ihr Verhalten ihrem Sohn gegenüber. Man spürt sofort, dass es beiden an Herzenswärme fehlt. Sie tauschen nie familiäre Zärtlichkeiten aus, jedenfalls nie in meiner Gegenwart. Es scheint fast, als wäre Radamo ein Diener, ein Fremder wie ich.
Radamo ist für mich das größte Rätsel im Hause. Es gibt kein Kinderzimmer, keine alten Fotografien, keine Erinnerungsstücke an seine Kindheit, nichts Privates. Außer in seiner Musik scheint er keine Gefühle zu kennen. Ich glaube, ich könnte nackt in sein Zimmer kommen, es würde sich in ihm überhaupt nichts regen.
Er hat nicht einmal eine eigene Sprache. Wenn er den Mund aufmacht, ist es, als würde seine Mutter oder sein Vater reden.
Draußen grölen ein paar Angetrunkene. Die kommen bestimmt vom Altstadtfest.
In der Diele schlagen die Uhren zehn Mal. Unten höre ich den Meister unruhig in seinem Arbeitszimmer hin und hergehen. Es ist etwas Geheimnisvolles an ihm, das ich mir nicht erklären kann. Normalerweise stellt er seine Neuschöpfungen gleich in die Regale im Laden. Aber manchmal arbeitet er nächtelang durch, ohne dass ich am nächsten Tag ein neues Uhrwerk oder ein unbekanntes Schmuckstück entdecken kann. Mir gegenüber hält er sein Arbeitszimmer fest verschlossen. Es scheint, als ob er an etwas ganz Anderem, an etwas Größerem arbeitet.
Ich muss mich jetzt zur Ruhe begeben. Morgen wartet auf mich ein langer Tag.
Kapitel 8: Geheimgänge
Unten stand Adrian Ampoinimera in seiner Bibliothek, entfaltete einen alten Stadtplan und studierte ihn. Mit einer verärgerten Handbewegung streifte er sich den dabei heruntergerieselten Staub von seiner dunkelgrauen Nadelstreifenhose.
»Hm, die Darstellung stimmt nicht mit den Angaben aus den Archivakten überein. Von dem Schrangen aus, dem schmalen Platz unterhalb des Rathauses, gibt es keine Querverbindung zur Oberschule. Die Karte ist gerade mal 150 Jahre alt. Wahrscheinlich hatte man damals den Gang zugeschüttet. – Oder er war in Vergessenheit geraten.«
Er holte sich die abgetretene Anstellleiter und fischte aus dem obersten Bücherbord einen zerfledderten Lederband heraus. ›Liber judicii‹ stand in kaum noch lesbaren goldenen Lettern auf dem Bücherrücken. Wieder machte er sich die Hose schmutzig.
»Verdammt, ich werde der Zofe auftragen, hier mal ordentlich Staub zu wischen.«
Adrian wusste, dass er die einzige noch erhaltene Abschrift, ein Exemplar aus dem späten 17. Jahrhundert, der inzwischen als verschollen geltenden Schrift besaß. Es handelte sich um eine Art Gerichtsprotokoll aus der Mitte des 16. Jahrhunderts, in dem Besitzvollstreckungsbeschlüsse, Todesurteile und Ratsurteile in Privatrechtsfällen aufgezeichnet worden waren. Für den Goldschmied war es eine Quelle der Inspiration. Mit diesem Buch verfügte er über Kenntnisse, die den städtischen Archäologen und Archivaren wohl für immer verborgen blieben.
Lübeck pflegte schon früh einen regen Handel mit fernöstlichen und ostafrikanischen Ländern. Bei passender Gelegenheit plünderte man dann auch gern die kulturellen Schätze der Länder. Diese landeten entweder auf den Wohnzimmerbüfetts der vornehmen Handelsherren oder schmückten deren Frauen. Die Verteilung der Beute gab nicht selten Anlass zu juristischen Streitigkeiten, und so blieb es nicht aus, dass die wertvollen Gegenstände in den Gerichtsbüchern erwähnt wurden.
In Verbindung mit anderen Dokumenten und alten Stadtplänen war es Adrian schon mehrfach gelungen,
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