Schattengold
verdeckt wurde.
Das Leben in Lübeck ging seinen gewohnten Gang, auch wenn die Astronomische Uhr in der Marienkirche zu schwächeln begann. In letzter Zeit tickte sie nicht ganz regelmäßig und ging immer wieder ein wenig nach.
Das lag wohl an der Jahreszeit.
Durch den Umgang mit Raik wuchs Ainas Selbstvertrauen wieder an. Das peinliche Erlebnis im Stadttheater verblasste. Im Gesangsunterricht machte sie gute Fortschritte, und ihre Lehrerin beschloss, einen Vortragsabend zu organisieren, bei dem ihre Schüler eine Kostprobe ihrer Kunstfertigkeit darbieten konnten.
Um dem Ganzen die Atmosphäre eines professionellen Liederabends zu geben, sollte die Veranstaltung im Großen Konzertsaal der Musikhochschule stattfinden.
Das Gebäude, das diesen Saal beherbergte, schloss die aus mehreren Altstadthäusern zusammengesetzte Hochschule nach Süden hin ab, mit Blick auf die Wallanlagen rund um den Stadtgraben.
Ein für seine Liebe zur Musik bekannter Bürgermeister hatte die ganz unterschiedlich aufgebauten Häuser den Besitzern aus dem mittelständischen Bürgertum abgeluchst. Statt mit den Waren aus aller Welt füllten sich die ehemaligen Handelshäuser jetzt mit den künstlerischen Energien einer hoffnungsvollen Jugend.
Zwischenwände wurden teilweise abgerissen, teilweise neu hochgezogen. Hier eine Pforte, dort ein Gang. Ein paar Übungsräume waren nur über eine Dachstiege zu erreichen. Manchmal kam man von Haus zu Haus nur durch einen dunklen Kellergang.
Das ist auch der Grund, warum sich nicht einmal der Pedell der Anstalt in dem Labyrinth vollständig auskannte. Dafür hatte er seinen spürsicheren Hund, einen Patterdale-Terrier, immer an seiner Seite.
In den Wallanlagen zeigte sich der Herbst in all seinen Facetten. Die schrägen Sonnenstrahlen brachten die gelbbraunroten Farben der Blätter zum Leuchten. Kinder hatten ihren Spaß, sich gegenseitig mit dem frischen Laub zu bewerfen. Ein paar Mütter saßen auf den Bänken, ihre Kinderwagen vor sich, und schauten dem fröhlichen Treiben zu.
Im Gegensatz zu den Gassen in der Stadt duftete hier eine reine Herbstluft.
Der Saal war nur spärlich mit Zuhörern besetzt, überwiegend Musikstudenten und ein paar Angehörige. Ainas Eltern saßen in der ersten Reihe, neben ihnen Raiks Mutter.
Die Professoren aus Ainas damaliger Aufnahmeprüfung fanden sich ebenfalls ein. Man ahnte, dass sich hier ein Ausnahmetalent entwickelte. Der Rektor, der Professor für Kontrabass, brauchte heute seine Hornbrille nicht. Die gestrenge Gesangslehrerin verzichtete auf ihren obligaten Bleistift, weil sie wusste, dass es heute nichts zum Mitschreiben gab. Der Kirchenmusiker kam ohne seine gewohnte Anstecknadel. Stattdessen prangte eine exquisite Goldbrosche auf seinem Revers.
Er hatte sie bei Meister Ampoinimera fertigen lassen, und sie stellte in exotischer Art eine engelsähnliche Gestalt mit einer Lyra in den Händen dar. Zweifellos symbolisierte sie die Einheit von Religion und Musik.
Die Orgelmusik in der Marienkirche hatte er inzwischen ganz seinem Aushilfsorganisten Radamo Ampoinimera übertragen.
Etwas verspätet erschien Ria, die Kammerzofe. Eigentlich wollte sie ihre heimliche, unerfüllte Liebe Cello spielen hören. Als sie sah, dass Raiks Mutter in der ersten Reihe saß, setzte sie sich spontan auf den freien Platz neben sie. Als die Saalbeleuchtung erlosch, rückte sie nahe an Judith Svavarson heran und hakte sich bei ihrer Nachbarin unter. Judiths dezentes Parfum betörte sie. Sie hatte das Gefühl, als säße sie in einem wunderschönen Kinofilm mit Katharine Hepburn in der Hauptrolle.
Auch Judith durchströmte ein Gefühl der Geborgenheit. Ihr gefiel die spontane, zärtliche Zuneigung der Jüngeren. Kurz bevor die Musik einsetzte, flüsterte sie ihr zu: »An deinem nächsten freien Tag hole ich dich ab. Dann fahren wir beide raus nach Travemünde.« Das vertrauliche Du kam ihr wie selbstverständlich über die Lippen.
»Am kommenden Sonntag würde es passen«, gab Ria leise zurück. Statt einer Antwort ergriff Judith ihre Hand und streichelte sie sanft.
Mitten im zweiten Satz der Eröffnungssonate tauchte Krolls Assistent Hopfinger auf. Ihn führte jedoch nicht die Muse hierher – davon verstand er nichts –, sondern er musste sich aus dienstlichen Gründen den ungewohnten Klängen hingeben.
Für ihn stand der Uhrmachergeselle, der im Hause Ampoinimera arbeitete, an der Spitze der Tatverdächtigen in der Angelegenheit Goldschmuckdiebstähle. Und dieser –
Weitere Kostenlose Bücher