Schattengold
›Plötzlich im letzten Sommer‹ spielte. Ich bin sicher, auch Judith verbirgt hinter ihrer selbstbewussten äußeren Maske die tiefe Sehnsucht, die ich von mir selbst kenne.
Ich finde sie sympathisch, und ich spüre, dass das auf Gegenseitigkeit beruht. Sie erzählte mir von ihrem Ferienhaus in Travemünde und lud mich ein, beim nächsten Mal mitzukommen. Sie müsse, wenn die letzten Feriengäste abgereist sind, das Haus auf den Winter vorbereiten. Ich könnte ihr dabei helfen. Ich freue mich schon jetzt auf ein Wiedersehen.
Es ist spät, ich brauche jetzt meine Ruhe.
Gute Nacht, arme, einsame Ria!
Kapitel 16: Radamo
Unten im Hause schlugen die Uhren zwölf.
Im Arbeitszimmer ihres Mannes schaltete Rana den Computer an.
»Immer will Adrian unseren Radamo für seine dunklen Zwecke benutzen! Ich aber will einen perfekten Musiker aus ihm machen, einen Musiker, dem keiner das Wasser reichen kann.«
Sie brachte Radamo in Position und drückte ihm eine Querflöte in die Hand.
Dann öffnete sie ihr spezielles Musikprogramm und kontrollierte die MIDI-Einstellungen. Die Temposteuerung gefiel ihr noch nicht. Die Musik klang in ihren Ohren zu starr. Vor allem musste sie sich etwas einfallen lassen, um die Wiedergabe der Flötenstimme interaktiv gestalten zu können.
Ihr kam eine Idee. Das Mikrofon sollte die Stimme des Musizierpartners analysieren und in passende digitale Daten umsetzen. Das war über einen empfindlichen A/D-Wandler überhaupt kein Problem. Wie konnte sie diese Daten jetzt aber mit Signalen der Tonwiedergabe so koordinieren, dass eine sensible Wechselwirkung zwischen dem Gehörten und dem Gespielten in Bezug auf das Tempo, die Agogik und vor allem das Ausführen von Fermaten und Kadenzen entstand?
Ein schlichtes Umprogrammieren brachte nur wenig Erfolg. Dann versuchte sie es mit verschiedenen Plug-ins. Mithilfe eines Keyboards imitierte sie die Kadenz, über die Aina seinerzeit bei dem Hauskonzert mit ihr und Radamo gestolpert war.
Das Musikprogramm reagierte jetzt zwar besser, aber Rana war immer noch nicht zufrieden. Als hervorragende Pianistin wusste sie, dass die Körperlichkeit beim Musizieren eine entscheidende Rolle spielte. Nicht nur das Ohr, auch das Auge hatte einen gewichtigen Anteil an einem harmonischen Zusammenspiel.
Ihr wurde klar, dass sie die optischen Signale einbeziehen musste. Das Kameraauge war mit kleinsten, empfindlichen Bewegungssensoren ausgestattet, die man auf verschiedene Körperteile konzentrieren konnte. Diese tasteten die elementaren Bewegungen eines Sängers oder eines Instrumentalisten bis ins Detail ab.
Rana probierte das an sich selbst aus. Der Computer registrierte das Öffnen und Schließen der Lippen, das Heben und Senken des Kopfes und folgte sogar den virtuos schnellen Läufen ihrer Finger auf den Tasten.
Es genügte ihr immer noch nicht. In einem Spiegel studierte sie ihre Bewegungen sowohl beim Klavierspielen als auch beim Singen einer kleinen Melodie.
Jetzt hatte sie es: Das Atmen eines Musikers spiegelte ganz deutlich seinen Gestaltungswillen wider. Es musste ihr gelingen, nicht nur die Bewegungen des Brustkorbs zu erfassen, sondern auch den Luftstrom, der durch Mund und Nase führte.
Nach längerem Suchen im Internet fand sie ein passendes Plug-in, das sie sich herunterlud. Es war schnell installiert und an die passenden Sensoren angeschlossen. Nun galt es nur noch, die digitalen Informationen mit der MIDI-Datenbank ihres Rechners zu koordinieren.
Das stellte sich als der heikelste Schritt heraus. Rana holte sich ein Werk von Maurice Ravel aus dem Notenschrank und probierte das Musikprogramm aus. Immer wieder musste sie die Computersteuerung modifizieren.
Nach Stunden war es endlich so weit. Die Flötenstimme reagierte jetzt auf die kleinste musikalische Nuance eines Begleiters. Rana konnte ihre Zufriedenheit nicht verbergen und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Sie schaltete übermüdet den Rechner aus und begab sich zu Bett.
Draußen dämmerte es bereits.
Kapitel 17: Madagassische Gesänge
Der Herbst wehte ein paar Blätter von den Bäumen, die den Stadtgraben säumten, durch die Gassen. In der Innenstadt selbst gab es nur ganz wenige Bäume, sodass die Bewohner von dieser schönen Jahreszeit eigentlich nichts mitbekamen. Sie bemerkten den Herbst allenfalls daran, dass die Sonne kaum noch in die Altstadtwohnungen schien, weil sie zu schräg am Horizont stand und von den hohen Scheingiebeln
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