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Schattengold

Schattengold

Titel: Schattengold Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Buehrig
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Frau Grell traute sich nicht, an den Fäden der Marionette zu ziehen, aber sie stutzte beim näheren Hinsehen.
    In dem Bauch des Pferdes steckten ein paar kleine, braune Holzkugeln, die derjenigen überraschend ähnlich sahen, die auf dem Schreibtisch des Chefs lag. Vorsichtig betätigte sie eine Schnur, ließ eine Kugel in ihre Hand fallen und steckte sie in ihr Schminktäschchen.
    »Da wird sich die Verbrecherkrolle wundern!«
    Ihr Geliebter verstand nur Bahnhof. Das machte aber nichts. Frau Grell lud ihn zu einer Tasse Tee in ihre Wohnung ein, was für ihn Belohnung genug war.
    Die Laboranalyse ergab, dass es sich bei den Kugeln um Duplikate handelte. Endlich erhielt Inspektor Kroll die Antwort auf eine der vielen Fragen, die ihn nicht zur Ruhe kommen ließen.
    Die Frage war nur, was hatte das Mädchen kurz vor seinem Tod im Marionettenmuseum gesucht? Kroll beschloss, das Gebäude rund um die Uhr beschatten zu lassen.

     

     

Kapitel 20: Das Ende der Flugzeit

    Der Spätherbst verwandelte Lübeck in eine Traumkulisse für nostalgische Filme. Ria liebte es, in dieser Jahreszeit vor sich hinträumend durch die Gassen der Innenstadt zu schlendern. Sie kam sich vor, als wäre sie Statistin in der Neuverfilmung von Thomas Manns ›Buddenbrooks‹.

    Der Morgentau benetzte die feinen Spinnenweben, die sich überall in den Nischen der Altstadt bildeten, und machte sie so sichtbar. Und besonders schön funkelten sie in allen Farben an den Stellen, an denen es der tiefliegenden Sonne gelang, sich an ihrem dichten Netz zu brechen.
    Die Flugzeit der Schmetterlinge ging langsam zu Ende, und ganz unmerklich stieg von den Sträuchern und Bäumen im Domviertel rund um den Mühlenteich und den Wallanlagen ein feiner Geruch von Moder, von Vergänglichkeit auf. Die Runden der Mütter mit ihren Kinderwagen wurden immer kürzer, und die Alten trafen sich nur noch für eine kurze Rast. Die Zeit, wie Bücherstützen auf den Parkbänken zu sitzen, wurde wegen der rasch einsetzenden Abenddämmerung immer kürzer. Und die Jungen kickten jetzt auf den Hinterhöfen, weil sich das Laub einer ganzen Saison auf dem zertretenen Rasen angesammelt hatte.
    Ria und Judith trafen sich im Domcafé. Auch hier war ein Hauch von Spätherbst zu spüren. Frau Svavarson fiel auf, dass einige Damen ihr Kaffeekränzchen in der aktuellen Herbstmode bestritten. Sie selbst kümmerte sich wenig um die neueste Modeströmung. Sie hatte sich ihr hochgeschlossenes, marineblaues Sommerkleid mit der dunkelblauen Halsschleife und dem gleichfarbigen Samtgürtel angelegt, das ihre schlanke Figur betonte. Ihr einziger Schmuck bestand aus einem breiten, goldenen Armreif, der locker ihr schmales rechtes Handgelenk umfasste. Es schien, als wäre sie dem Bild ›Im Wintergarten‹ von Édouard Manet entstiegen, das sie vor Kurzem in der Berliner Nationalgalerie bewundert hatte.
    Ihr Gegenüber trug eine schlichte weiße Bauernbluse mit einem schmalen Rüschenkragen. Die halblangen Puffärmel und der breite, aufgeknöpfte Ausschnitt gaben viel von der frischbraunen Haut preis. Ein kurzärmliger brauner Strickbolero und ein langer gleichfarbener Rock mit Kellerfalten komplettierten ihren Stil. Das auffälligste an Ria war das breite blaue Haarband, das ihr langes blondes Haar streng nach hinten zusammenband. Dadurch wirkte ihr ovales Gesicht mit dem wulstigen Schmollmund sehr sinnlich. Zwei nussgroße Ohrperlen aus Kunststoff reflektierten das Licht und betonten ihren schmalen Hals. Das alles ließ sie zwar ein wenig altbacken aussehen, und es war nicht unbedingt der Jahreszeit angemessen, aber Ria liebte die Tracht.
    »Du siehst wunderschön aus«, gestand Judith. »Als ob du eines meiner Lieblingsbilder, ›Das Mädchen mit dem Perlenohrring‹ von Vermeer zum Leben erwecken wolltest.«
    Ria war das Lob ein wenig peinlich. Sie musste zugeben: »Oh, das ist gar nicht so abwegig. Ich hab’ mir die Kleidung von der gleichnamigen Verfilmung mit Scarlett Johansson abgeschaut. Ich liebe den Film, und das Schicksal des Mädchens hat mich sehr gerührt. Eine einfache Dienstmagd wächst dank eines sensiblen Malers über sich hinaus, findet zu sich selbst, scheitert aber dennoch an den Intrigen und am Unverständnis ihrer Umwelt. Manchmal fühle ich mich wie sie. Ich habe niemanden, dem ich das anvertrauen kann. Dann flüchte ich mich in die Kinos. – Wie ein hilfloser Schmetterling, der unstet von Blüte zu Blüte fliegt. – Und dann träume ich, ich sei die Leinwandheldin, und

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