Schattengott
sie die Ticketverkäuferin.
«Gerade nicht.»
«Bitte lassen Sie mich eine Weile allein in der Kirche. Ich muss
etwas untersuchen.»
«Und was soll ich den Leuten sagen, wenn sie reinwollen?»
«Sagen Sie, die Kirche wird gerade begutachtet, sie sollen sich
gedulden.»
«Ja, ist recht.»
«Danke.»
Sabina betrat den romanischen Steinbau, der wie alle reformierten
Kirchen der Schweiz äusserst karg ausgestattet war. Sie setzte sich auf eine
Bank und legte den Kopf in den Nacken. Ihr Blick wanderte über die Bibelszenen
an der Decke. Die Bilderdecke von Zillis war berühmt, sie bestand aus über
hundertfünfzig biblischen Einzeldarstellungen aus dem 12. Jahrhundert.
Nirgendwo sonst auf der Welt war eine alte Deckenbemalung so gut erhalten wie
hier. Sabina betrachtete die einfachen, kraftvollen Darstellungen mit teilweise
furchteinflössenden Phantasiewesen und Teufeln. Zeugnisse einer Reli-gion, die
auf Angst gebaut war. Ihr wurde plötzlich klar, dass das Christentum sich hier
in den Bergen durchaus gewaltsam ausgebreitet und heidnischen Kulten den Garaus
gemacht hatte. Es war offenbar ein Hauen und Stechen gewesen in jenen ersten
nachchristlichen Jahrhunderten. Hätten die Dinge sich etwas anders entwickelt,
vielleicht wäre der Mithraskult zur prägenden Religion des Abendlandes
geworden. So aber war er ein Inbegriff des Heidentums geworden.
Welche war eigentlich die friedliche Religion, fragte sie sich.
Dieser Kult, so wie ihn die Internetseiten beschrieben, war kein blutiger
Gewaltkult gewesen. Mithras war ein aus dem Felsen geborener Lichtgott, der zur
Errettung der Welt gekommen war, um das Böse und Dunkle zu überwinden. Die
antiken Mithraisten hatten eine Art Abendmahl gefeiert, einen Ritus mit Brot,
Fleisch und Wein. Das höchste Fest im Mithraismus war der 25. Dezember
gewesen. An diesem Tag feierte man die Geburt des Gottes, der aus dem Felsen
kam. Das Christentum hatte viele dieser Bräuche und Riten übernommen, den alten
Kult aber ausgerottet. Sabina stand auf. Sie hatte eine Idee.
Von Zillis führte die Strasse direkt nach Donat und dann weiter
den Berg hinauf. Hier oben am Schamserberg, noch oberhalb von Wergenstein,
lebte Sabinas vielleicht bester, sicher aber ihr verschrobenster Freund:
Fridolin Thaller. Sie kannte ihn, seit sie ein Kind gewesen war. Fridolin war
ein Lebenskünstler. Er machte nichts so, wie es andere taten, aber er machte
das, was er tat, gut. Und er wusste viel. Über Religionen. Über die Geschichte
der Region und sicher auch über den Mithraskult.
Schon von Weitem konnte sie sein Haus sehen, das von aussen wie ein
alter Stall aussah. Im Garten stand ein Sammelsurium von Gegenständen, die alle
über Mechanismen miteinander verbunden waren. Ein weisser Marmorengel pinkelte
auf ein Wasserrad, das einen Zahnkranz antrieb, der eine Kugelbahn in Bewegung
setzte. Geriet eine Kugel ins Rollen, fiel sie auf einen Impulsschalter, der
eine Glocke zum Läuten brachte und für kurze Zeit einen Ventilator antrieb.
Durch den Wind wurden vier Klangstäbe in Schwingung versetzt. Der vierte
Klangstab wiederum stiess an eine Wasserschale, die dadurch kurz umkippte. Sie
setzte einen Wasserkreislauf in Gang, ehe sie von einem Gummi wieder
hochgezogen wurde und sich erneut füllte. Das aus der umgekippten Schale
laufende Wasser speiste einen Trichter, der durch einen Schlauch mit dem Engel
verbunden war. So pinkelte dieser wieder und führte die Kettenreaktion fort.
Solche völlig zweckfreien Riesenmaschinen baute Fridolin Thaller aus
altem Unrat und Trödel. Fridolins Garten war ein Ort der Phantasie und
Kreativität. Als Sabina sein Grundstück betrat, setzte sich eine
Klanginstallation in Gang, die aus mehreren Flaschen bestand. Fridolin, der im
Garten gedöst hatte, wachte auf.
«Ja, da schau her, meine Lieblingspolizistin», sagte er.
Sabina umarmte ihn und schenkte ihm ein strahlendes Lächeln.
«Netter Klang, wie kommt’s dazu?»
«Das ist ein Geheimnis», antwortete Fridolin mit grosser Geste. Er
war barfuss, seine Fussnägel waren lila lackiert, sein struppiges, langes Haar
ungekämmt. «Was führt dich zu mir, Sabina?»
«Etwas Ernstes.»
«Ernst? Und da kommst du bei mir vorbei? Am heiligen Feiertag?»
«Heilig ist gut. Ich habe drei Mordfälle, bei denen ich
Unterstützung brauche.»
«Hier bei uns?»
«Ja, leider. Die drei Frauen, die seit Wochen vermisst werden.»
«Hab ich nicht mitbekommen. Und wie kann ich dir helfen?»
«Du weisst viel über die Geschichte
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