Schattengott
lebte und den Beeli als Experten für die Felsen
von Carschenna benannt hatte.
«Pass auf dich auf», sagte Heini, der noch bis zum Abend die
Stellung auf dem Polizeikommando in Chur hielt, während die Regionalposten in
Thusis und im Schams mit allen Kräften im Einsatz waren.
«Ach, Heini», fragte Sabina im Gehen. «Welche Schuhgrösse hast du
eigentlich?»
«Dreiundvierzig», sagte er, «aber ich war’s nicht.»
Als Sabina den kleinen Feldweg entlangfuhr, der zum Tor von
Schloss Mondfels führte, fiel ihr ein schwarzer Land Rover Defender auf dem
Parkplatz auf. Sie stellte ihren Wagen daneben, machte mit dem Handy drei Fotos
vom Reifenprofil des Defenders und schickte sie an Reto Beeli. «Bitte mit
Reifenspuren bei Carschenna vergleichen, Gruss Sabina», schrieb sie dazu und
setzte ein Smiley dahinter. Dann löschte sie es wieder. Es wurden zu viele
Grinsbacken versandt.
Sie stand vor dem grossen Eingangstor und betrachtete das Gebäude.
Schloss Mondfels blickte auf eine fast tausendjährige Geschichte zurück. Über
die Jahrhunderte war es mehrmals ausgebrannt und wieder aufgebaut worden.
Häufig hatte es die Besitzer gewechselt. Grafen, Privatleute und Unternehmen
hatten es besessen, ehe Alfred Rosenacker es vor rund zwanzig Jahren gekauft
und restauriert hatte. Von den Einheimischen wurde das Anwesen am Fusse des
Heinzenbergs eher gemieden. Zu undurchsichtig war ihnen der Zweck der Stiftung
Alfred Rosenacker, die der Besitzer 1990 ins Leben gerufen hatte. Mochte auch
Rosenacker ein aufrechter Mann sein, die wechselnde Schar an internationalen
Gästen, die er auf seinem Schloss beherbergte, bot Anlass zu Spekulationen.
Sabina hatte das Schloss auf dem Weg nach Obergmeind schon öfter
gesehen. Einmal hatte sie es sogar so lange im Rückspiegel betrachtet, dass sie
fast von der Strasse abgekommen wäre. Näher beschäftigt hatte sie sich vor dem
Fall allerdings nie damit.
Sie öffnete das Tor. Das Anwesen war gepflegt. Auf dem dazugehörigen
Gutshof weideten Schafe und Kühe, im Garten blühten Blumen. Mehrere Bänke und
ein hübscher Pavillon zierten den Garten. Sabina nahm die Treppe zum Eingang
und zog an der eisernen Glockenstange. Sie spürte die knirschende Mechanik. Als
auch nach dem zweiten Glockenschlag niemand kam, drückte sie die schwere
Klinke. Die Tür war offen.
«Hallo?», rief sie und blickte in einen grosszügigen
Eingangsbereich. Auf grossen Steinplatten standen barocke Schränke. An den
Wänden hingen Ölporträts ehemaliger Besitzer. Zur Rechten und Linken gingen
Türen ab. Eine Steintreppe führte nach oben.
Als sie noch einmal ein beherztes «Haaaalloooo» ausstiess, das in
dem gewölbten Raum widerhallte, hörte sie Schritte. Aus der ersten Etage kam
ein älterer Mann die Treppe herunter. Er hatte einen federnden, für sein Alter
geradezu beschwingten Gang, längere weisse Haare und äusserst freundliche
blaugraue Augen.
«Grüezi», begrüsste er sie. «Wie kann ich Ihnen helfen?»
«Grüezi, Sabina Lindemann von der Polizei in Chur. Sind Sie Herr
Rosenacker?»
«Jawohl. Was führt Sie her?»
«Man hat mir gesagt, Sie seien ein Experte für die Felszeichnungen
von Carschenna und die historischen Besonderheiten der Region.»
«Ein Experte? Ich hab viel darüber gelesen und mir so meine Gedanken
gemacht. Aber ein Experte, ich weiss nicht. Was wollen Sie denn wissen?»
«Ich mache es kurz: Gestern wurden drei Leichen auf einem Felsen bei
Crap Carschenna gefunden.»
«Die vermissten Frauen aus der Gegend?», fragte Rosenacker.
«Ja.»
«Bitte kommen Sie mit.»
Die Bibliothek sah so aus, wie man sich eine Schlossbibliothek
vorstellt. Ein über die Jahrhunderte von der Sonne beschienener Parkettboden
leuchtete honigbraun. Kunstvoll gedrechselte Holzregale trugen alte, schwere
Bücher. Vor den Fenstern standen filigrane Schreibtische mit antiken Stühlen.
Rosenacker bat Sabina an den grossen Tisch in der Mitte des Raums.
«Möchten Sie etwas trinken? Tee? Kaffee? Oder etwas Kaltes?»
«Einen Tee, gerne. Grün, wenn Sie haben.»
«Natürlich.»
Rosenacker gab mit einer silbernen Klingel ein Signal. Ein Mann mit
kugelrundem Bauch betrat die Bibliothek.
«Sei so gut und bring uns bitte eine Kanne grünen Tee und ein
bisschen Gebäck.»
Der Mann nickte und verschwand.
«Oskar, mein Koch», erläuterte Rosenacker. «Bei bis zu zwanzig
Gästen mach ich das nicht selber.»
«Ich habe schon von Ihrer Gastfreundschaft gehört», nahm Sabina den
Ball auf. «Aber so ganz
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