Schattengott
was durch den
Unfall geschehen war. Dass unser Vater vier Menschen und sich selber durch den
Unfall getötet hatte, verkraftete sie nicht.» Bruder Dominique hielt kurz inne.
«Noch am Unfallort hat sie sich mit Kreuzen aus seinem Blut beschmiert und
wirre Sätze gesprochen. Von da an hat sie jeden Tag Gott um Vergebung gebeten
für die Sünde dieses Unfalls. Jeden Tag, von morgens bis abends. Können Sie
sich das vorstellen?»
Sabina schüttelte den Kopf.
«Jeden Tag: Herr, verzeih uns, Herr, vergib uns. An ein normales
Leben war überhaupt nicht mehr zu denken. Wir Kinder litten furchtbar darunter.
Und dann, drei Jahre nach dem Unfall, nahm sie sich in der Kirche unseres
Dorfes das Leben. Sie schnitt sich unter dem Kreuz die Halsschlagader auf.»
Bruder Dominique schluckte. «Jean hat sie gefunden.»
Sabina sah betreten zu Boden.
«Wir kamen auf ein katholisches Internat», fuhr er fort. «Dort gab
es einen Lehrer, der Jean Einzelunterricht erteilte. Er musste mehrmals in der
Woche auf dessen Kammer kommen. Ich habe nie näher mit ihm darüber geredet,
aber nach Vaters Tod, nach dem Tod unserer Mutter und erst recht seit diesen
Geschehnissen im Internat hasste Jean das Christentum. Er machte die Religion
für alles Schlechte in unserem Leben verantwortlich und verschloss sich immer
mehr.»
«Und Sie?», fragte Sabina fassungslos. «Sie haben nach alldem das
Kloster als Lebensort gewählt?»
«Die Prüfungen in unserem Leben sind hart», sagte Bruder Dominique,
«aber ich habe in Gott meinen Frieden gefunden. Ja.»
«Und Ihr Bruder, hat er irgendetwas geliebt auf dieser Welt?»
«Seine tiefste Liebe galt der Musik, in ihr fand er Frieden. Er
spielte immer ein Lied aus unserer Kindheit auf seiner Harfe. Das gab ihm
Trost.»
«Hat er je mit Ihnen darüber gesprochen, dass er einer Vereinigung
angehörte, einem Kult?», wollte Sabina zum Abschluss wissen.
Der Bruder schwieg.
«Wir haben nicht mehr miteinander geredet, seit ich in die
Gemeinschaft eingetreten bin», sagte er nach einer langen Pause.
«Danke, Bruder Dominique», sagte Sabina. «Sie haben mir geholfen zu
verstehen, was bei uns passiert ist.»
Um halb neun fand das Abendgebet statt. Unter Hunderten von
Gästen setzte sich Sabina auf den Teppichboden der Versammlungshalle, die in
ein warmes rotes Licht getaucht war. Der Klang von Gitarren, Flöten, Oboen, ja
sogar einer Harfe erfüllte den Raum. Die Gemeinde sang Lieder, die in ihrer
Einfachheit und Gleichförmigkeit ergreifend waren. Sabina liess ihre Seele in
den Klängen ankommen und sang die lateinischen Verse mit. Ein tiefes
Glücksgefühl erfasste sie. Die Heilkraft der Musik wirkte. Eine Erfahrung, die
sie mit Redolfi teilte. Sie sah die Opfer noch einmal vor sich. Weiss und
unschuldig. Die Arme zu Kreuzen ausgestreckt. Sie weinte.
* * *
An diesem Sonntag wurde auf dem Marienheiligtum Ziteil an der
Ostseite des Piz Curvér wie jedes Jahr das Kirchweihfest begangen. Ziteil war
das höchstgelegene Gotteshaus Europas und ein berühmter Pilgerort. Hier war der
Legende nach 1580 einem jungen Mädchen die heilige Maria erschienen und hatte
Besserung von den sündigen Menschen im Tale gefordert. Seither war das
Heiligtum immer wieder erneuert worden und hatte sich über die Jahrhunderte zu
einem viel besuchten Wallfahrtsort entwickelt.
Vom Schams her war es über einen kleinen Pfad durch die unwirtliche
Gebirgswelt um den Piz Curvér zu erreichen. Vom Oberhalbstein aus führten
mehrere Wege auf die beträchtliche Höhe von 2.434 Metern. Unter die vielen
Pilger, die an diesem Sonntag die heilige Stätte erwanderten, mischten sich
nacheinander auch drei hagere, bärtige Männer, die aus der Steinwüste um den
Piz Curvér kamen. Im Heer der Pilger fielen sie nicht weiter auf. Sie nahmen am
Abendmahl teil, das sie aus ihrer Kindheit und Jugend nur zu gut kannten, und
knieten vor dem Kruzifix nieder, das vor einem der riesigen Panoramafenster
errichtet war.
Keiner der anderen Pilger konnte ahnen, dass die drei Männer die
Schöpfer eines blutigen Kults waren, der die christliche Welt in Angst und
Schrecken versetzen sollte. Niemand merkte den Männern an, wie tief ihr Hass
auf die Religion war, die hier oben verehrt wurde. Am nächsten Morgen stiegen
sie zusammen mit anderen Pilgern ab. Im Oberhalbstein trennten sie sich und
fuhren mit verschiedenen Postbussen weiter. Als Hohepriester und Messdiener
hatten sie sich einem Kult verschrieben, der einen Gott verehrte, der einst aus
dem Felsen
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