Schattengreifer - Die Zeitenfestung
hervor.
Schon hatten die Krallen die Größe von Raubkatzen angenommen. Über den roten Stellen entwickelten sich drei schwarzePunkte, die sich auseinanderzogen. Zwei wurden zu Augen, der dritte zur Nase. Vier Beine formten sich aus jeder Kralle heraus, und auch ein langer Schwanz bildete sich an ihren Enden.
Die ersten leckten sich mit der hellroten Zunge über die beiden säbelartigen Zähne, während die anderen ihre Krallen wetzten.
Vor den Freunden hatten sich riesige Säbelzahntiger aus den Krallen herausgeformt. Gewaltige Katzen, deren schwarze Augen die Jugendlichen angriffslustig anstarrten.
Einer der Tiger brüllte laut auf und riss damit die Freunde aus ihrer Erstarrung. Sie wandten sich um, doch die Schatten versperrten ihnen den Weg.
Simon sah zu dem Portal hinauf. Die Krähe blickte zufrieden zu ihnen herunter. Beinahe war es ihm, als genieße sie den Anblick, den sie da geboten bekam.
Dann wandte sich Simon Neferti zu. Die Schatten hatten von ihr abgelassen. Leblos lag sie am Boden, die Augen geöffnet.
Und Simon verzweifelte. Neferti hatte ihre sieben Katzenleben bereits aufgebraucht. Dieses Mal stand seine Freundin nicht
mehr unter dem Schutz ihrer Göttin.
Panik erfüllte seinen Geist.
Er musste sich beeilen. Ihm blieb nicht mehr viel
Zeit.
Seine Kräfte schwanden mehr und mehr.
Es würde ihm nicht mehr lange gelingen, den Zauber weiter zu beherrschen und
die Krähe in seiner Macht zu halten.
Doch in diesem Kampf war sie auf seine Führung angewiesen.
Nur noch wenige
Augenblicke, und er würde zusammenbrechen.
Er spürte es genau.
Sie mussten sich beeilen.
Er gab sich einen innerlichen
Ruck und verstärkte seine Konzentration auf das Geschehen.
Die riesige Krähe schrie, während sich die Säbelzahntiger vor den Pforten der Gänge postierten. Die Schatten kamen weiter auf die Freunde zu, die Schritt für Schritt zurückwichen, bis sie mit ihren Rücken gegen die Wand stießen.
Nun gab es kein Entrinnen.
Hier also endet nun alles, dachte Simon noch. Ihm fiel keine List mehr ein. Kein Gedanke mehr an Flucht.
Es war vorbei.
Dies bedeutete das Ende für sie alle. So, wie es für Neferti sowieso schon vorbei war.
Noch einmal blickte er zu ihr herunter. Tränen bildeten sich in seinen Augen. Dort lag sie. Ausgestreckt auf dem Boden. Sein Herz setzte aus. Dieser Anblick raubte ihm das letzte bisschen Kraft. Ihm war, als hätte man ihm ein Stück seiner selbst genommen.
Nun war alles egal. Simon sah den Schatten entgegen und verlor alle Angst. Sollten sie doch kommen! Ohne Neferti hatte ohnehin alles keinen Sinn. Doch, wenn er schon sterben musste, dann an ihrer Seite.
Er nahm die kleine Krähe von seiner Schulter und übergab sie Caspar, der direkt neben ihm stand. Erst dann trat er einen Schritt vor.
»Simon«, schrie Nin-Si. »Was tust du?«
Er achtete nicht auf sie. Er stieß sich von der Wand ab und rannte auf die Schatten zu und durch sie hindurch. Er wollte zu Neferti. Sich an ihre Seite legen. Ihren Kopf in seinen Händen halten. Mit ihr gemeinsam …
Sein Lauf wurde jäh gestoppt. Inmitten der Schatten spürte Simon die Schmerzen, die zuvor Neferti verspürt hatte. Seinganzer Körper schien zu vereisen. Er hatte das Gefühl, binnen Sekunden zu erfrieren. Innerlich.
Wie zuvor Neferti kämpfte auch er dagegen an. Aber es ging ihm nicht darum, sich zu wehren. Sein einziges Ziel war es, Neferti zu erreichen.
Mühsam bewegte er sich zwischen den vielen Schattengestalten hindurch, und er wunderte sich, warum sie nicht mit ihren Händen nach ihm griffen. Das Gefühl des Vereisens entstand ausschließlich durch die Berührung mit ihren körperlosen Gestalten. Anders als bei Neferti versuchten sie jedoch nicht, ihn zu halten.
Schließlich hatte er die Wand aus Schatten durchbrochen. Nur noch wenige Schritte durch die Halle, und er wäre bei Neferti.
Doch in diesem Moment nahm er wahr, was sich vor ihm abspielte. Dies war wohl auch der Grund, warum die Schatten ihn nicht angegriffen hatten. Das Heer dieser gespenstischen Kreaturen stand hinter ihm und blickte ebenfalls nach vorn in die Halle. Für einen Augenblick hatten sie Simons Freunde völlig vergessen.
»Simon!«, schrie Salomon ihm durch die Schattengestalten zu. »Gib acht!«
Zwei der Säbelzahntiger sprangen auf ihn zu. Simon duckte sich und hielt die Hände abwehrend über den Kopf, wenngleich ihm bewusst war, dass diese Haltung ihn nicht gegen die riesigen Zähne schützen konnte.
Doch die Tiger griffen ihn nicht an.
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