Schattenhaus
Matthias vorausgesehen. Er schwänzte eine ganze Woche durch; postierte sich in einem Gebüsch, bis er erst Melli und eine halbe Stunden später den verhassten Typen das Haus betreten sah. Der Mann war übrigens ein Salbungsvoller, der Zeugen-Jehovas-Blättchen mit sich herumschleppte und Melli angeblich nur die Liebe Gottes lehren wollte. Matthias folgte dem Freier im Abstand von zwei Minuten, betrat oben leise die Wohnung, griff geradewegs zum im Flur stehenden Telefon und wählte 110 . Er meldete sich mit Namen und Adresse und erklärte dann laut und deutlich: «Bitte kommen Sie sofort, meine Mutter hat hier einen Freier, der vergewaltigt gerade meine neunjährige Schwester.»
Der Genannte erschien rotgesichtig in Mellis Tür. «Bist du noch ganz bei Trost?», fauchte er. Viel mehr kam von ihm nicht, da seine Priorität darin bestand, so schnell wie möglich Wohnung und Haus zu verlassen. Kaum war er draußen, stand dafür Carina böse, verzweifelt und mit Tränen in den Augen vor Matthias. «Willst du mich ins Gefängnis bringen? Wie kannst du mir das antun, mein eigener Sohn?»
Als die Polizisten da waren, mit einem Ausdruck von Missfallen und Verachtung im Gesicht, behauptete Matthias: Der Mann sei schon weg, außerdem handele es sich um ein Missverständnis, er habe zwar verdächtige Geräusche gehört, aber seiner Schwester habe niemand etwas getan, der Freier sei bei der Mutter gewesen. Melli bestätigte das ängstlich. Sie wollte nicht schuld sein, wenn die Mama wieder weggesteckt wurde.
Als die Polizisten überheblich und verärgert davongegangen waren, sagte Matthias zu seiner Mutter: «Das nächste Mal mache ich ernst. Ich schwöre dir, noch einmal, und du bist weg.»
Carina brach in Tränen aus. «Du verdammter Scheißkerl», fluchte sie. «Ich weiß genau, wie du auf deine Mutter runterblickst. Dabei schaff ich doch nur das Geld für euch an, irgendwer muss es ja tun. Du toller Kerl mit deinen vierzehn Jahren bist ja für nichts gut. Früher haben Jungen in deinem Alter gearbeitet, du kannst bloß essen und Geld ausgeben. Eh du nicht auch Geld ranschaffst, lass ich mir von dir nichts sagen. Melli ist brav und gehorcht, die weiß, wer es gut mit ihr meint.»
Matthias zitterten die Knie. Er blieb stur, sagte immer nur: Sie könne machen, was sie wolle, aber nicht mit Melli, und beim nächsten Mal würde sie ins Gefängnis wandern, das sei ihm egal.
«Und was soll dann aus euch werden?», fragte Carina zwischen Verzweiflung und Zorn.
Da rutschte es Matthias heraus: «Jedenfalls was Besseres als du.»
Sie knallte ihm eine, tief verletzt. Er schlug nicht zurück, obwohl er heftig den Trieb spürte, es zu tun. Doch er hatte sich immer wieder hoch und heilig als wichtigstes Prinzip geschworen, niemals die Beherrschung zu verlieren, niemals eine Frau zu schlagen, niemals so zu werden wie Kai und seine Nachfolger, alles minderbemittelte Sauf- und Drogennasen, lächerliche Figuren, die nur gegenüber Frauen stark sein konnten.
Am Abend entschuldigte er sich bei Carina, sagte ihr wahrheitsgemäß, er liebe sie, und er wolle sich zukünftig am Geldverdienen beteiligen. Nur betreffs Melli nahm er nichts zurück.
Die nächsten Wochen schwänzte Matthias fast durchgängig. Entweder er bewachte im Gebüsch das Haus. Oder er war in der Stadt unterwegs, klauen für Melli, für Mama, für sich. Er war geschickt und wurde praktisch nie erwischt. Fast alles ließ sich so besorgen: Kleider, Unterhaltungselektronik, Geschirr. Ein Problem waren nur die Lebensmittel. In den Supermärkten war man zu aufmerksam, um einem pubertierenden Jungen mit dunklem Haar große Beute durchgehen zu lassen. Für Lebensmittel-Großeinkäufe brauchte es Bargeld. Zusammen mit seinem Freund Said aus dem Nebenhaus begann Matthias, jüngere Schulkinder auf dem Nachhauseweg zu bedrohen und Geld oder Wertsachen zu erpressen. Sie lernten schnell, bei welchen Kindern mit guter Beute zu rechnen war, zogen von Stadtteil zu Stadtteil, von Schule zu Schule, um immer neue, überraschte Opfer zu finden und nirgendwo allzu bekannt zu werden. Eines Tages brachte Said eine Spielzeugpistole mit, die täuschend echt aussah. Sie besorgten sich schwarze Gesichtsmasken und verlegten sich darauf, Kioske zu überfallen. Sie lernten die richtigen Leute kennen und das richtige Werkzeug. Als Nächstes waren Fahrräder dran, dann Autos. Sie wurden selten erwischt, und wenn, waren sie zu jung, um viel mehr als ein Wochenende Jugendarrest aufgebrummt zu
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