Schattenhaus
Ihnen habe ich jetzt einen viel besseren Eindruck als bei den letzten Kandidaten. Ich habe auch neulich den Brief gelesen, den Sie an die Merle geschrieben hatten, richtig süß war der. Ich denke, Sie beide sind genau das, was die armen Häschen brauchen.»
Dass Andrea und Ulli nicht heterosexuell waren und bislang noch nicht einmal verheiratet – kein Problem. Die Sozialarbeiterin war kurzhaarig, ungeschminkt, übergewichtig, trug ein bauchfreies T-Shirt und zwinkerte Ulli mehrfach zu. Sie erklärte, Pflegekinder könnten sogar an Alleinstehende vergeben werden, wenn sonst alles stimme. Der einzige Wermutstropfen: Eine Adoption würde Zeit brauchen. Sie würden also erst einmal mit dem Pflegeelternstatus vorliebnehmen müssen. «Wir ziehen die Eignungsprüfung für die Pflegschaft aber im Eiltempo durch», versprach die Mitarbeiterin. «Ich mach da richtig Dampf.» Gleich morgen wollte sie die Wohnung besichtigen. Einen Schlüssel für die Höchster Altbauetage hatte Ulli bereits übers Wochenende bekommen. Der Notartermin für den Kauf war übermorgen, fürs kommende Wochenende war die erste Hälfte des Umzugs geplant.
«Am Freitag oder am nächsten Montag könnten Sie die Kinder schon haben», schloss die Sozialarbeiterin. «Jedenfalls wenn Sie es bis dahin geschafft haben, die Zimmer zu möblieren. Da reicht mir dann ein Foto. Ich schlage vor, dass Sie die Mädchen jetzt erst einmal im Heim besuchen, um sie einzustimmen. Sie kennen sie ja noch gar nicht persönlich.»
«Können wir heute schon hingehen?», fragte Ulli. Sie hatte sich freigenommen und wollte den Tag nutzen.
«Sicher. Ich kündige Sie der Heimleitung an, dann sollte es keine Probleme geben.»
Andrea bestand darauf, vorher Geschenke kaufen zu gehen. Bücher, für jedes Kind zwei. Bücher hatte Merle sich ja gewünscht. Lange suchten sie auf der Neuen Kräme und um die Hauptwache herum in den Buchhandlungen, weil Andrea nichts gut genug zu sein schien, bis Ulli ein Machtwort sprach: «So, die nehmen wir jetzt!» Ihr war klar, dass Andrea vor dem Besuch das Herz flatterte. Ihr ging es ähnlich. Aber bei Andrea musste es schlimmer sein, weil sie die Sache ins Rollen gebracht hatte. Für die kleine Merle würde Andrea die Ansprechpartnerin sein.
Bei dem Heim ließ sich gut parken. Auf einem Spielplatzgelände vor dem Haus tummelten sich ungefähr zwanzig Kinder zwischen zwei und zwölf. Nun wurde es auch Ulli mulmig. Langsam näherten sich die beiden Frauen dem Zaun, der mannshoch war und aus grobem Maschendraht bestand, und ließen die Blicke über die Kinderschar schweifen. Plötzlich spürte Ulli einen harten Griff an ihrem Arm. «Da sind sie», flüsterte Andrea und drehte Ulli in die Richtung einer Wippe. Dort waren zwei hellblonde kleine Mädchen in T-Shirt und Röckchen zu sehen. Die Ältere, von sechs oder sieben, platzierte fürsorglich die Jüngere von etwa drei auf dem hintersten Sitz und lief dann zur anderen Seite, wo sie sich so weit vorne wie möglich niederließ und vorsichtig die Wippe betätigte. Es gab kaum einen Zweifel, das waren Merle und Wolke Vogel. «Gott, sind die süß», murmelte Andrea verliebt. Ulli musste zugeben, dass sie verdammt noch mal recht hatte. Ihr war trotzdem noch mulmig zumute. Bei Andrea aber waren plötzlich alle Ängste und Zweifel verflogen. «Merle!», rief sie fröhlich und forsch durch den Zaun, «Merle!»
Die Größere der beiden auf der Wippe drehte sich mit fragendem Blick um. Als sie Andrea entdeckt hatte, weiteten sich ihre Augen. Sofort sprang sie herab und kam herbeigelaufen, mit einem hoffnungsvollen Blick, der Ulli zutiefst anrührte. «Andrea?», fragte Merle schüchtern auf den letzten Metern. «Stimmt», sagte Andrea strahlend. Merle hüpfte mit einem Juchzer hoch vor Freude, dann warf sie sich regelrecht gegen den Zaun, drückte ihr Gesicht dagegen, streckte ein paar Finger durch und strahlte Andrea an. «Freu mich ganz doll, dass du gekommen bist», piepste sie heiser. Ulli war so gerührt und betroffen, dass sie nur dumm danebenstehen konnte, Andrea aber war in ihrem Element. «Ich freu mich auch ganz doll», sagte sie und streichelte Merles Finger. «Guck mal, ich hab noch jemanden mitgebracht, das ist die Ulli, meine älteste und beste und allerliebste Freundin.»
Merle sah schüchtern zu Ulli hin. «Hallo, Ulli», piepste sie.
«Hallo, meine kleine Merle», sagte Ulli mit belegter Stimme. Während sie überlegte, wie doof genau sich das jetzt angehört hatte, streckte Merle
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