Schattenhaus
abgehakt und man bekam den Umschlag mit den Klausurunterlagen ausgehändigt. Winter trat neben Olsberg, als sie dran waren, und zeigte statt des Personalausweises seinen Dienstausweis. Leise sagte er: «Andreas Winter, Kripo. Ich begleite Herrn Olsberg, weil er derzeit in Haft ist.» Dazu hob er den Arm an, um die Fesselung zu zeigen. Der Mitarbeiter, der die Listen abhakte, sah verschreckt aus und fragte bei dem anderen nach, der die Umschläge austeilte. Nach einer Pause bekam Olsberg einen Klausurumschlag gereicht, und sie wurden durchgewinkt. Winter spürte, wie Olsberg an seiner Seite aufatmete. Er war nicht sicher gewesen, ob sie diese Hürde passieren würden.
Erstaunlicherweise warf keiner der Studenten einen zweiten Blick auf das mit Handschellen zusammengebundene seltsame Paar, das sich einen Weg zu einem Sitzplatz in den oberen Rängen bahnte. Vor der Klausur war wohl jeder zu sehr mit sich und den kommenden Aufgaben beschäftigt.
Nachdem das Signal zum Öffnen der Umschläge gekommen war, vertiefte Winter sich in einen Stern und ein Geo-Heft, die er unterwegs am Kiosk erstanden hatte. Olsberg neben ihm arbeitete hart und konzentriert. Eine knappe Stunde vor Ende der Zeit schob er Winter einen Zettel hin: Fertig!
«Sie wollen abgeben?», flüsterte Winter. Olsberg nickte.
«Na, wie war’s?», fragte Winter ihn, als sie draußen waren. «Entweder sehr gut oder sehr schlecht, nehm ich an, wenn Sie so früh fertig sind.»
«Weder noch», lachte Olsberg, der erleichtert und euphorischer Laune schien. «Ich hätte gerne noch mal alles überprüft, aber die Konzentration ließ plötzlich so rapide nach, dass ich gedacht hab, ehe ich verschlimmbessere, mache ich jetzt Schluss. Bei einer Aufgabe bin ich nicht sicher, ob ich den Lösungsweg gefunden hab. Ansonsten bin ich gut durchgekommen. – Ich hoffe bloß, dieser Albtraum hier …» Er verstummte, hob demonstrativ die behandschellte Hand. «Herr Winter, was denken Sie, wie lange ich noch in Haft bleiben muss?»
«Das kommt drauf an, wie sehr Ihr Anwalt den Haftrichter beeindruckt», brummte Winter. Sie betraten den Fahrstuhl. Olsberg stellte sich ihm schräg gegenüber, so weit weg, wie die Fesselung es zuließ. «Ehrlich gesagt, ich verstehe das nicht ganz», sagte der junge Mann mit leichtem Protestunterton in der Stimme. «Es gibt doch gar keine Verdachtsmomente gegen mich, oder? Bis darauf eben, dass ich bin, wer ich bin. Birthe hat doch im Krankenhaus mehreren Leuten gesagt, dass sie die Pilze selber gesammelt hat.»
«Herr Olsberg, Sie wissen, dass ich Ihnen aus ermittlungstechnischen Gründen keine Auskünfte über Verdachtsgründe geben kann. Frau Feldkamp hat übrigens im Krankenhaus auch ausgesagt, dass sie eine erfahrene Champignonsammlerin ist, die die Kennzeichen von Knollenblätterpilzen kennt, und dass sie sich nicht vorstellen kann, wie so viele Giftpilze in ihr Essen kamen.»
«Wieso so viele? Wie viele Giftpilze waren es denn?»
«Dazu kann ich Ihnen keine Auskunft geben.» Sie traten aus dem Fahrstuhl und verließen das Gebäude. Es war trüb und windig.
«Herr Winter, noch was. Ich würde gerne meinen Anwalt wechseln. Ich habe den Eindruck, meiner glaubt mir nicht. Können Sie mir jemanden empfehlen?»
Winter nannte Sonja Manteufel. Er war sicher, dass sie eine ausgezeichnete Anwältin war. Aber ganz ohne Hintergedanken war die Empfehlung nicht.
***
Die polizeilichen Pilzesucher hatten vorgestern auf den Wiesen zwischen Birthe Feldkamps Haus und der Nidda an vielen Stellen helle Pilze entdeckt. Diese waren laut Bestimmungsbüchern allesamt Champignons. Doch auch eine Ansammlung von Knollenblätterpilzen hatten sie gefunden, am Rand einer Baumgruppe gar nicht weit von Feldkamps Haus. Einige davon hatte Aksoy mit Fotos der Fundstellen am Abend noch bei den Experten in Mainz vorbeigebracht. Sie bat die Experten zu überprüfen, ob die Polizisten die Pilze korrekt bestimmt hatten. Nur bei einem einzigen Pilz, einem Champignon, war die Zuordnung falsch gewesen. Und das, obwohl sie alle Pilz-Laien waren.
«Okay, es kann schon mal ein Fehler passieren», resümierte Aksoy später gegenüber Winter. «Oder man legt einen Pilz aus Versehen in den Korb, obwohl man ihn eigentlich schon aussortiert hatte. Aber dass einer geübten Person wie der Birthe Feldkamp gleich mehrere Knollenblätterpilze dazwischenrutschen, kann ich mir jetzt ehrlich gesagt nicht mehr vorstellen. Außerdem, die Knollenblätterpilze haben wir gar nicht zwischen
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