Schattenhaus
jedoch Gunhilds Chance. Sie war vierzig, hatte keinen Beruf außer Hauswirtschaft gelernt, und die Schwägerin wollte sie aus dem Haus haben, das merkte sie jeden Tag. Der Reinhard, wusste man, war nicht gern allein, war Junggeselle nur geblieben, weil er mit der Rosemarie sozusagen versorgt war. Nun war er fünfundfünfzig, zwar noch fesch für sein Alter, aber so viele Chancen hatte er nicht mehr. Zumal es im Dorf keine passende unverheiratete Frau gab. Außer eben Gunhild. Gunhild, die nie jemand gewollt hatte, obwohl sie auch nicht hässlicher war als andere.
Es war bekannt, dass der Reinhard abends nach acht gern in der
Wachtel
in Lauterbach beim Bier saß. Also machte Gunhild sich hübsch und ging eines Abends dorthin. Noch im Oktober desselben Jahres war Hochzeit.
Und gerade das hatte der Jörg wohl dem Reinhard besonders übelgenommen: Dass er erst die Rosemarie «umgebracht» und sich dann gleich mit einer anderen getröstet hatte, während Rosemaries Familie noch trauerte.
Nachdem Jörg ihnen zur Hochzeit lautstark «alles Unglück dieser Welt» gewünscht hatte, setzte er zu Sabrinas Taufe im nächsten Jahr noch eins drauf: «Mörderkinder sterben früh», prophezeite er und sah vielsagend drein, als habe er einen Plan in petto, das Kind zu töten. Gunhild ließ ihre kleine Tochter später nicht alleine aus dem Haus vor Angst, Jörg könnte sie im Bach ertränken, oder die Kinder aus Rosemaries Familie würden es tun. Jörg impfte seine Nichten und Neffen und später seine eigenen Kinder mit Hass auf die unschuldige Sabrina. Wenn Gunhild mit ihrer Tochter die Dorfstraße entlang zum Bäcker ging, und sie begegneten draußen irgendwelchen von Rosemaries Enkeln, ging das Gejohle los: «Da kommt das Pfister-Monster!», «Iiiih, das Pfister-Monster!», pflegten sie zu rufen. Pfister-Monster nannten sie die arme Sabrina, weil sie als Kleinkind unglücklicherweise einen dicken Blutschwamm auf der Backe hatte. Auch die anderen Kinder aus dem Dorf nahmen den Ausdruck an. Als Sabrina in die Grundschule kam, war der Blutschwamm verblasst, geschrumpft und kaum noch sichtbar, aber der Name «das Pfister-Monster» war ihr geblieben. Er begleitete Sabrina, abgekürzt zu «das Pfister», sogar noch ins Gymnasium nach Lauterbach, wie Gunhild entsetzt erfuhr, als sie eines Tages zur Mittagszeit in der Kreisstadt Besorgungen machen musste und eine Gruppe Schüler vor ihr herging. «Das Pfister ist doch ein Spast», hörte sie einen der Schüler zu den anderen sagen. Alle lachten. «Ey, woll’n wir das Pfister morgen –», begann ein weiterer, da ließ Gunhild sich zurückfallen, um nicht mehr zuhören zu müssen. Spätestens seit diesem Tag wusste sie, dass es keinen Sinn hatte, gegen das Schicksal anzukämpfen. Sie hätte Reinhard nicht heiraten dürfen. Nun aber war ihr Schicksal besiegelt und das ihrer Tochter ebenso. Sabrina als Kleinkind vor «Unfällen» zu schützen hatte nur dazu geführt, dass das Mädchen später umso schlimmer leiden musste.
Als Sabrina sechzehn war, beschloss Jörg Krombachs damalige Frau, sich von ihrem Mann zu trennen und die Kinder mitzunehmen. Das brachte den schwierigen, rachsüchtigen Menschen neuerlich aus dem Gleichgewicht. Traf man ihn auf der Straße, wurde er auf eine Weise ausfällig, dass Gunhild angst und bange wurde. Man hörte, er habe sich ein Motorrad zugelegt und den Motorradführerschein gemacht. Eines Morgens fand Gunhild einen Zettel im Flur, auf dem Folgendes stand:
Der HERR läßt niemanden ungestraft, sondern sucht heim die Missetat der Väter über die Kinder ins dritte und vierte Glied. Der Herr sagt: Ich will euch weitere siebenmal mehr strafen um eure Sünden, daß ihr sollt eurer Söhne und Töchter Fleisch essen.
Diese grausigen Drohungen aus der Bibel konnten nur von Jörg stammen. Aus irgendeinem Grund ahnte Gunhild, dass sie am Osterfest in Erfüllung gehen sollten, welches in wenigen Tagen bevorstand, und dass das Motorrad dabei eine Rolle spielen würde. Im Vorjahr war Sabrina zum ersten Mal zum Osterfeuer der Burschenschaft gegangen. Dieses Jahr wolle sie wieder hin, sagte sie. Allein natürlich, per Anhalter. Sie hatte ja keine Freunde im Dorf.
Als Sabrina am Ostersamstag fortgegangen war, fand Gunhild keine Ruhe. So verriet sie Reinhard, was sie befürchtete. Reinhard nahm seinen Revolver samt einer Ladung Munition und verließ das Haus. Gunhild saß im Wohnzimmer und wartete auf eine Katastrophe. Fast wünschte sie sich, es möge etwas
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