Schattenhaus
Rautenkeramikkultur erwies sich nämlich als sehr alt, genauso alt wie die frühen Landwirtschaftskulturen des Orients. Das warf alle Theorien über die Entstehung der Landwirtschaft über den Haufen. «Tierzucht und Töpferei in Deutschland erfunden», titelten die Gazetten, eine führende Tageszeitung machte «Ex occidente lux» daraus, während die Fachwelt von einer unabhängigen Parallelentwicklung sprach.
Der Ionendetektor piepte. André spürte die Anspannung steigen. Das Gerät hatte seine Arbeit getan, hatte das Stückchen menschlichen Knochen aus der Grabung, das er als Probenmaterial eingelegt hatte, mit Cäsium beschossen und die sich lösenden Ionen des radioaktiven Kohlenstoffs gezählt. Mit den rohen Daten, die der Bildschirm jetzt ausspuckte, konnte man noch nicht viel anfangen. André lud sich die Daten auf seinen Rechner und gab alles in das Programm ein, das er eigens für diesen Zwecks geschrieben hatte. Nach einer Minute Sanduhr bekam er eine geeichte und kalibrierte Jahreszahl für das Alter der Probe.
Ihm wurde erst heiß, dann kalt. Er musste etwas falsch gemacht haben. André versuchte sich zu beruhigen, gab alle Daten erneut ein. Wartete nervös. Und bekam dasselbe Ergebnis. Entweder, er war unfähig. Oder das Skelett, das sie in der Grabung gefunden hatten, war ziemlich exakt dreieinhalbtausend Jahre zu jung.
***
Um Viertel vor sechs telefonierte Fock Winter herbei. Die Wangen des Ersten Kriminalhauptkommissars wurden immer röter unter der Silbertolle, während Winter versuchte, sich zu erklären. «Mensch, Winter, was ist denn nur los mit Ihnen?», unterbrach Fock seinen Mitarbeiter schließlich. «Wenn ich nicht wüsste, dass Sie gerade im Urlaub waren, dann würde ich sagen, Sie brauchen welchen!»
«Alles okay, Chef, ich mache lediglich meine Arbeit. Ich bin noch nicht ganz durch mit diesen sechzig Seiten Forenkonversation. Aber wenn ich’s richtig verstanden habe, dann redet dieser Sumathi Sabrina Vogel ein, dass er ihre Seele in einen anderen Körper auf einem anderen Planeten versetzen kann und dass sie eine Lebensversicherung –»
«Lieber Kollege Winter! Jetzt reicht es aber. Der Fall ist abgeschlossen. Wir sind heute Morgen übereingekommen, dass wir die Akte Vogel der Staatsanwaltschaft übergeben, wenn der Test an dem Revolver von Sabrina Vogels Vater nichts ergibt. Und was machen Sie? Statt dass Sie mir umgehend das eindeutig negative Ergebnis aus der Ballistik mitteilen, fangen Sie neue Recherchen an! Auf was für einer Wolke leben Sie denn, dass Sie glauben, irgendein Gerede in einem Esoterikforum im Internet hätte etwas mit dem Tod von Sabrina Vogel zu tun? Den Namen Sabrina gibt’s nicht nur einmal. Ernsthaft, Winter, Sie haben sich da in was verrannt. Sie wollen doch nur, dass Sven Kettler unrecht hat. Ich behalte mir vor, aus diesem unkollegialen und kindischen Benehmen Konsequenzen zu ziehen. Es sei denn, Ihr Fehlverhalten hat sofort ein Ende. Mit Herrn Weber haben Sie doch schließlich auch ohne Probleme zusammengearbeitet.»
Herr Weber war Winters Freund und Kollege, der vor drei Monaten nach Kassel versetzt worden war. Winters Herz klopfte unangenehm. Er wusste, dass er vorläufig verloren hatte. Alles, was er zu seiner Verteidigung vorbringen konnte, würde in Focks Augen nur wie Renitenz aussehen. Allmählich wurde ihm klar, dass Fock schon seit dem Weggang von Gerd Weber Ende Oktober nach Fehlern bei ihm suchte. Fock hatte sich wohl eingeredet, dass die gute Arbeit des Teams all die Jahre auf Gerd und nicht auf ihn zurückzuführen sei. Ihm allein traute er nicht viel zu.
«Danke für die Abreibung, Chef», sagte Winter nach einer langen Pause, halb ironisch. «Ich denke schon, dass ich in den letzten Tagen sinnvolle Arbeit gemacht habe. Ich sehe allerdings ein, dass ich mich nicht gut abgesprochen habe, weder mit Ihnen noch mit Sven Kettler. Das wird sich ändern.»
Er stand auf und ging. Die letzten konzilianten Worte bereute er beinahe schon wieder. Es war nicht gut, Fehler zuzugeben. Das machte einen bloß angreifbar. Das war so bei der Polizei. Jedenfalls im Frankfurter Präsidium.
Sven Kettler war schon fort, als Winter im Büro seine Jacke holte. Natürlich. Wann traf man Kettler noch um sechs Uhr abends an? Höchstens, wenn es wie gestern darum ging, einen Verdächtigen zum zweiten Mal binnen zwei Tagen mit Drogenentzug weichzuklopfen. Kettler hatte so harmlos gewirkt, als er vor zehn Wochen seinen Dienst in der MK 1 antrat. Ein
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