Schattenhaus
gemacht.»
«Ach? Ist der Kollege Kettler jetzt schuld, dass du keine Lust hast, dich um die Erziehung deiner Tochter zu kümmern?»
«Wie bitte? Carola, kannst du einmal sachlich sein? Übrigens habe ich eben mit Sara geredet.» Er nahm den Teller mit irgendeinem gelblichen Eintopf plus Reis aus der Mikrowelle und verbrannte sich fast die Hand dabei.
Carola ließ nicht locker. «Aha, das nennst du also ‹reden›? Erst ‹Mein Hase› und ein Lob für das hässliche Piercing, das ihr alle seriösen Berufschancen verbaut, dann eine Minute Nettigkeiten in ihrem Zimmer, und das war’s. Was hast du ihr denn gesagt?»
«Dass sie anständig verhüten soll natürlich. Worauf sie mir ihre Präservative gezeigt hat. Dann hab ich gefragt, wer der junge Mann ist, aber das wollte sie mir nicht sagen.»
«Ach nee. Das wollte sie dir nicht sagen. Und das nimmst du so hin?»
Winter ließ die Gabel auf den Tisch fallen. «Hätt ich’s aus ihr rausprügeln sollen? Sag mal, Carola, hast du vergessen, was wir vor Fuerteventura besprochen haben? Kannst du vielleicht mal weniger negativ sein und mir nicht ständig Vorwürfe machen?»
Carola antwortete nicht, stand da, die Arme verschränkt, das früher so freundliche Gesicht sah verhärmt und verkniffen aus. Oder waren es bloß die Falten, der Zug der Schwerkraft an den alternden Mundwinkeln? Winter versuchte, sein Hühnercurry zu essen. Er hoffte, dass sie gerade in sich ging. «Übrigens echt lecker», sagte er nach zwei Minuten. Ein wie immer verdientes Lob. Carola kochte brillant.
Jetzt verließ sie in Windeseile den Raum, ohne ihn anzusehen.
Winter seufzte. Nachdem er fertig gegessen hatte, holte er das Telefon in die Küche, die sich immer mehr zu seinem einsamen abendlichen Aufenthaltsort entwickelte, und rief seine Schwägerin an. Annett war eine fröhliche, resolute Person, fünf Jahre jünger als Carola. Sie war ledig und arbeitete im Zoo als Tierpflegerin, ihrem erklärten Traumberuf.
«Sag mal, Annett», begann Winter ohne lange Vorrede, «ist irgendwas mit Carola, wovon ich nichts weiß? Hat sie einen Freund, oder hab ich ihr letztes Jahr was getan, ohne es zu merken? Wir streiten uns die ganze Zeit, und ich habe den Eindruck, dass es nicht an mir liegt.»
«Mensch, Andi, das tut mir leid. Davon weiß ich gar nichts. Sie erzählt mir immer nur, wie furchtbar Sara im Moment ist. Ja, doch, und dass du sie nicht genug unterstützen würdest, was Sara betrifft, und nie Zeit hättest. Sie ist halt sehr empfindlich und reizbar im Moment. Das bringt die zweite Pubertät manchmal mit sich.»
«Die zweite Pubertät?»
«Die Wechseljahre, mein ich natürlich. Wir haben hier im Zoo eine Kollegin, die war immer so was von die Ruhe selbst. Leben und leben lassen war ihr Motto. Und jetzt hat sie die Wechseljahre und macht plötzlich aus allem und jedem ein Problem. Manchmal fängt sie mitten auf der Arbeit an zu heulen, einfach so.»
«Aber Carola ist doch nicht in den Wechseljahren?»
«Sie hat dir das nicht gesagt? Manche trifft’s früher, manche später. Bei ihr ist es eben sehr früh. Das belastet sie. Deshalb hat sie’s dir vielleicht verschwiegen.»
«Annett, ich danke dir tausendmal. Das erklärt einiges.»
Zum Beispiel, dass Carola neuerdings mit einem Handtuch auf dem Kopfkissen schlief, weil sie nachts ständig schweißnasse Haare hatte.
Mutter und Tochter gleichzeitig in der Pubertät. Das konnte ja nicht gutgehen. Er schmunzelte. Irgendwie war er erleichtert.
***
Birthe Feldkamp kam spät von der Amnesty-Sitzung nach Hause. Ihr Anrufbeantworter blinkte. Wer konnte das sein? Ihre Eltern? Sie drückte den Abspielknopf.
«Hallo, Frau Feldkamp. Hier ist Greilich von der Bewährungshilfe. Ich wollte Ihnen nur sagen, ich habe heute mit Herrn Matthias Olsberg gesprochen, und er wird Ihr Angebot, bei Ihnen einzuziehen, nicht nutzen. Er hat im Studentenwohnheim schon was in Aussicht. Sie können sich also einen anderen Mieter suchen.»
Birthe fühlte sich, als zöge man ihr den Boden unter den Füßen weg. Sie hätte am liebsten das Telefon zur Strafe auf den Boden gepfeffert. Stattdessen schritt sie hilflos von der Diele ins dunkle Wohnzimmer, sah hinaus in die milchige, neblige Düsternis. Es war stürmisch, die Baumwipfel schüttelten sich im Wind.
Was war nur passiert, dass ihr Leben so einsam geworden war?
In der Schule war sie eines der beliebtesten Mädchen gewesen. Jeder hatte mit ihr befreundet sein wollen. Nicht nur die arme Sabrina Pfister.
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