Schattenhaus
hin.
***
Auf dem Nachhauseweg drehte Winter trotz Kälte noch zwei Runden im kahlen Holzhausenpark, um Abstand zu gewinnen.
Im Flur seiner Wohnung in der Glauburgstraße lief ihm Tochter Sara über den Weg, statt im zünftigen Goth-Schwarz in häuslicher Schlamp-und-Bettkluft einschließlich rosa Fleeceoberteil. Sara hatte er seit der Rückkunft aus Fuerteventura kaum gesehen. «Da ist ja mein Hase!», rief er freudig. Seine Tochter ließ sich ausnahmsweise ohne Widerstand oder Protest gegen die «Hase»-Anrede in den Arm nehmen und auf die Wange küssen. Dabei fiel Winter ein scheußliches Piercing unterm Mund ins Auge. «Neu?», fragte er und deutete mit dem Finger drauf.
«M-hm.»
«Sehr hübsch», log er. «Wiewohl ich dich ohne auch sehr hübsch fand.»
«Mensch, Papa», sagte Sara, lachte und wurde etwas rot.
«Du, Hase, deine Mutter … Können wir mal kurz in dein Zimmer gehen und reden?»
«Och nö», stöhnte Sara zutiefst entnervt.
«Nur ganz kurz. Ich fress dich nicht.»
Mit Märtyrermiene schritt Sara voran. In ihrer dunkellila gestrichenen kleinen Höhle von Dachzimmer blieb sie mit vor der Brust verschränkten Armen stehen. «Und? Was hab ich jetzt wieder verbrochen?», blaffte sie.
«Gar nichts», sagte Winter beherrscht. Es ist nur … deine Mutter hatte gewisse Flecken auf deinem Betttuch entdeckt. Ich wollte dich bloß fragen, ob du dich mit Verhütung auskennst.»
Sara rollte die Augen, schien aber erleichtert. «Mensch, Papa. Sexualkunde hatten wir in Klasse sechs.» Sie zog ihre Nachttischschublade auf und holte ein Päckchen Präservative hervor. Winter sah möglichst schnell weg. Es war ihm ungemein peinlich, mit seiner Tochter über Sex zu reden. Oder sich vorzustellen, dass jemand mit ihr – er wollte das eigentlich alles gar nicht wissen.
Übrigens, wenn sie ein Präservativ benutzt hatten, woher dann der Fleck? Aber danach erkundigte er sich lieber nicht.
«Darf man fragen, wer der junge Mann ist? Der berühmte Selim, nehme ich an?»
Selim war Clubbetreiber, nach Ansicht von Saras Mutter kriminell und nach Ansicht Winters zwar mit dreiundzwanzig definitiv zu alt für Sara, aber ansonsten keine Katastrophe. Saras Eltern hatte er sich bisher nur einmal persönlich gezeigt.
«Das geht dich überhaupt nichts an», keifte Sara böse auf die Frage nach der Identität dessen, mit dem sie angeblich die Kondome benutzt hatte.
«Das geht mich sehr wohl was an», brüllte Winter zurück. Dann nahm er die Hände hoch. «Sorry», sagte er. Er hatte sich vorgenommen, seiner Tochter gegenüber nicht mehr laut zu werden. Das hatte nie etwas gebracht. Es reichte, wenn sie bei jeder Gelegenheit ausrastete. Er als Erwachsener hatte die Aufgabe, ruhig zu bleiben.
«Also, Hase, natürlich musst du uns das nicht erzählen. Aber dass es uns interessiert, ist doch klar. Wenn du mal reden oder einfach nur was erzählen willst – ich bin immer für dich da, okay?»
«Okay», sagte Sara.
Er umarmte sie noch einmal, und sie ließ es geschehen.
«Schon gegessen?», fragte er dann. Ihm knurrte der Magen entsetzlich.
«Bin auf Diät», erklärte Sara.
Natürlich. Abends essen war ja neuerdings bei seinen beiden Frauen verpönt. Wiewohl Winter schwören konnte, dass Sara oft heimlich in ihrem Zimmer Süßigkeiten aß und Carola nachts an den Kühlschrank ging. Sara war eine Spur pummelig. Eigentlich hauptsächlich im Gesicht, wo ihr der Babyspeck auf den Wangen saß. Er fand das süß. Sie hasste es.
Winter verließ die Dachkammer seiner Tochter. In der großen Wohnküche mit den Holzbohlen erwartete ihn zu seiner Freude Carola, die sonst um diese Zeit vorm Fernseher saß. «Hallo, Schatz», begrüßte er sie.
Keine Antwort. Winter sah seine Frau an. Griesgrämiger Gesichtsausdruck. Arme vor der Brust verschränkt, genau wie vorhin Sara. Winter hätte am liebsten laut gestöhnt. «Mein Essen ist in der Mikrowelle, nehm ich an?», sagte er, bemüht, Carolas beleidigte Haltung zu übersehen.
«Wie immer, nachdem die Diener es dort hingestellt haben», erklärte sie.
Er ignorierte das. Jede Antwort hätte ohnehin nur zu weiterem Streit geführt. Doch damit hatte er sich nicht aus der Affäre gezogen.
«Wie darf ich es verstehen, dass du im Moment dauernd spät nach Hause kommst?»
«Das darfst du so verstehen, dass ich Stress im Büro habe. Ein Fall, der ziemlich anstrengend ist, und dieser neue Kollege Kettler hat beim Chef gegen mich intrigiert. Da habe ich lieber etwas mehr
Weitere Kostenlose Bücher