Schattenhaus
Antwort nein lauten würde. Denn wenn Kettler Arbeit vermeiden konnte, tat er es. Immerhin, redete sich Winter ein, zeigte dies, dass Fock allmählich begann, Kettler zu durchschauen.
In die zerstrittene Mordkommission 1 war ein halbes Jahr nach dem Doppelmord Vogel eine brüchige Ruhe zurückgekehrt. Kettler tat so, als wäre nie etwas gewesen. Winter hielt sich seinerseits mit Kritik an Kettlers Schlampereien zurück. Innerlich schäumte er oft, doch zum Glück hatten sie seit Januar nichts als Routine zu bearbeiten gehabt, keinen einzigen komplizierten Fall, in dem Kettlers Arbeitsweise größeren Schaden hätte anrichten können.
Ansonsten hoffte Winter auf den Prozess gegen den angeblichen Vogel-Mörder Wladimir Preiß, um sich vor Fock zu rehabilitieren und seine angekratzte Autorität in der MK zurückzugewinnen. Die Verteidigung Preißens war tatsächlich von Sonja Manteufel übernommen worden. Manteufel hatte Winter per Brief diskret wissen lassen, dass sie zuversichtlich sei, bei ihren Recherchen den wahren Täter eingegrenzt zu haben. Ihrer Meinung nach kam er aus den Kreisen von Sabrina Vogels Schulfreunden. Falls das Gericht dies auch so sah, würde es Wladimir Preiß freisprechen müssen. Das würde Fock hoffentlich zeigen, auf welchen seiner Beamten er sich in schwierigen Fällen verlassen konnte und auf welchen nicht.
***
Der Stationsarzt der Medizinischen Klinik holte Kettler an der Pforte ab. «Ich sag Ihnen mal, warum wir die Anzeige gemacht haben», verkündete er, während er Kettler in der vollverglasten Eingangshalle zum Fahrstuhl führte. «Die Patientin muss eine riesige Dosis Gift intus haben. Das war nicht nur ein einzelner falscher Pilz. Es geht ihr augenblicklich besser, deshalb können Sie auch mit ihr reden –»
«Das heißt, es geht bloß um Körperverletzung, nicht um Tötung?»
«Um versuchte Tötung geht es auf jeden Fall, und wahrscheinlich bleibt es nicht bei dem Versuch. Wir gehen davon aus, dass die Patientin sterben wird. Das haben wir ihr allerdings nicht gesagt.»
«Wieso soll sie sterben? Es geht ihr doch schon besser.»
«Das ist so bei Knollenblätterpilzvergiftungen. Das Erstsymptom ist akute Gastroenteritis, sprich Erbrechen und Durchfall. Dann tritt einen Tag lang eine vorübergehende Besserung ein, und dann erst entwickelt sich der Leberschaden, an dem man schließlich stirbt.»
«Wie, kann man denn da gar nichts machen?»
«Doch. Mit Infusionen kann man die Leber ganz gut stabilisieren. Die meisten erwachsenen Patienten mit Knollenblätterpilzvergiftung bekommen wir heutzutage durch. Aber unsere Frau Feldkamp hier hat einen Quick-Wert von gerade mal drei Prozent. Das ist ein prognostischer Faktor, der uns sagt, dass sie kaum eine Überlebenschance hat. Wir gehen davon aus, dass sämtliche Pilze, die sie bei der Mahlzeit gegessen hat, Knollenblätterpilze waren. Und das kommt uns doch etwas seltsam vor. Man müsste halt mal zu der Stelle gehen, wo sie gesammelt hat, nachsehen, was da so wächst.»
Sie waren an der Tür des Krankenzimmers angelangt. Der Arzt führte Kettler hinein. Es handelte sich um ein Vierbettzimmer. Kettler hatte gar nicht gewusst, dass es so etwas Vorsintflutliches wie Vierbettzimmer heute noch gab. Bei seinem bisher einzigen Krankenhausaufenthalt, wegen eines Armbruchs, zugezogen durch einen Hechter beim Hallentennis, hatte er ein Zweitbettzimmer gehabt, und das zweite Bett war nicht einmal durchgehend belegt gewesen.
Die Kranke lag in einem der Betten am großen Fenster, zurückgelehnt auf einem weißen Kissen, mit endlos langen, lockigen roten Haaren, die ihren Oberkörper auf dem Kissen umgaben. Ihr junges Gesicht mit den grünen Augen war bleich und eingefallen. Kettler fühlte sich an irgendein bekanntes Gemälde erinnert, von einer jungen Frau mit roten Haaren, die dekorativ tot im Wasser lag. Ein ziemlich dummes Gemälde, wenn man wusste, wie Wasserleichen wirklich aussahen.
«So, Frau Feldkamp», sagte der Arzt, «hier hätten wir nun Ihren Kommissar. Geht es Ihnen denn so, dass Sie mit ihm sprechen können?»
«Klar», sagte sie lächelnd mit klarer, erstaunlich dunkler, schöner Stimme. «Mir geht es wirklich viel besser.»
«Gut, dann lasse ich Sie beide jetzt alleine.»
«Sven Kettler, Kriminalkommissar», stellte Kettler sich vor und streckte die Hand aus.
«Birthe Feldkamp», sagte die junge Frau.
Als er ihre kalte Hand losließ, fragte sich Kettler unwillkürlich, ob sie über die Haut Gifte ausschied. Hätte
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