Schattenherz
schon als ganz kleines Kind. Später kam dann die Angst, unter Menschen zu gehen, dazu. Das ging so weit, dass er auf dem Gymi sogar vom Sportunterricht befreit werden musste, weil allein der Gedanke, sich vor seinen Klassenkameraden umziehen zu müssen, bei ihm Panikattacken ausgelöst hat.
Dabei hat alles ganz harmlos angefangen. Er war ein ungewöhnlich hübsches Kind und seine Mutter hat sich am Anfang wohl einfach nur in den Komplimenten, die sie seinetwegen gekriegt hat, gesonnt.
Viel Anlass zum Freuen hat sie wohl ansonsten nicht gehabt: Mit knapp sechzehn die Schule geschmissen und mit ânem wesentlich älteren Freund durchgebrannt, und der hat sie prompt im Stich gelassen, als sie von ânem anderen schwanger geworden ist.
Klar: Sie hat dann vom Amt âne sogenannte Erstausstattung und Wohngeld und Kohle für den Lebensunterhalt gekriegt. Aber sie war sechzehn! Natürlich hat man da jede Menge Wünsche und Träume, die man sich damit nicht erfüllen kann. Also hat sie âne Gelegenheit gesucht, an Kohle zu kommen.
Na ja, das hört sich jetzt alles an, als wollt ich seine Mutter verteidigen, aber da gibt es beim besten Willen nichts zu verteidigen.
Malin tat sich trotz der wiedergewonnenen Nähe zu ihrer unsichtbaren Zuhörerin schwer damit, Anatols Geschichte weiterzuerzählen. Sie dachte an ihre eigene Mutter und daran, dass sie bis vor Kurzem geglaubt hatte, sie sei tot. Wahrscheinlich sind deshalb in meiner Fantasie alle Mütter lieb und verständnisvoll.
In ihrem Mütter-Universum kämpften Mütter wie Löwinnen um ihre Kinder und lieÃen nicht zu, dass ihnen jemand etwas zuleide tat.
Dabei ist meine Mutter eine Mörderin und Anatols Mutter â¦
Sie drückte erneut den Aufnahmeknopf.
Eine Freundin hat sie schlieÃlich auf die Idee gebracht, mit dem Aussehen ihres Kindes Geld zu verdienen.
Das Ganze war erst mal völlig harmlos: Sie hat ihren kleinen Sohn bei âner Agentur angemeldet, die Kinder für Filme und Werbespots vermittelt. Aber die haben Anatols Mutter schon nach ein paar Wochen wegen ihrer Unzuverlässigkeit wieder rausgeschmissen.
Tja und dann ⦠hat sie angefangen, Fotos zu machen.
Anatol war da noch viel zu klein, um zu verstehen, was vor sich ging. Sie hat ihm das Ganze als Spiel verkauft, und als er älter wurde und es ihm immer weniger gefiel, vor der Kamera zu posieren, hat sie es noch eine ganze Zeit lang mit allen möglichen Tricks â von Heulanfällen bis zu »Wenn du nicht mitmachst, steck ich dich ins Heim« â geschafft, ihn zum Weitermachen zu zwingen. Erst als Anatol eingeschult wurde, hat sie damit aufgehört, weil sie Angst hatte, er könnte sich da jemandem anvertrauen.
Aber da kursierten seine Bilder bereits auf den einschlägigen Internetportalen.
Malin drückte auf den Pausenknopf, füllte ein zweites Mal ihren Plastikbecher und stürzte das kalte Leitungswasser hinunter, als könne sie damit den Zorn, den sie bei dem Gedanken an das, was diese Frau ihrem Kind angetan hatte, lindern. Anatol war etwa zehn Jahre alt, als einer der »Kunden« ihn auf der StraÃe erkannte.
Er hat ihn angesprochen, hat ihm gesagt, wie ihn seine Fotos erregt hätten und wie gut er ihm immer noch gefallen und wie toll es wäre, sich näherzukommen.
Dieses Schwein hat ihn regelrecht verfolgt! Hat ihm auf dem Schulweg aufgelauert und versucht, ihn anzutatschen. Bis Anatol sich nicht mehr aus dem Haus getraut hat.
Anvertraut hat er sich niemandem. Er hat einfach überhaupt nicht mehr geredet; auch nicht mit denen vom Jugendamt. Die standen ein paar Monate später bei seiner Mutter vor der Tür, von wegen »allgemeine Schulpflicht«.
Seine Mutter hat ihn wieder zur Schule geschickt und damit war die Sache für sie erledigt. Gefragt, was mit ihm los war, hat sie nie. Nicht einmal nach seinem ersten Selbstmordversuch. Da war er dreizehn.
Anatol sagt, er wollte eigentlich nicht sterben. Er wollte eigentlich nur seinen Körper loswerden und das Gefühl, schmutzig zu sein und sich schämen zu müssen â¦
Als Malin Kellys Mini ankommen hörte, beendete sie hastig die Aufnahme und huschte zurück in Anatols Zimmer. Kelly rumorte kurz in der Küche herum, setzte sich dann mit einer Flasche Bier in der Hand an den Campingtisch und begann zu telefonieren. Was sie sagte, war nicht zu verstehen, aber aus ihrem Lachen und ihrer Körperhaltung
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