Schattenherz
Gericht jedenfalls ist genau davon ausgegangen. Und weil das Gift im Dessert war, haben sie sogar angenommen, deine Mutter wollte gleich die ganze Familie auf einmal ausrotten.«
»Ja«, sagte Malin kleinlaut, » aber das konnten sie ihr schlieÃlich nicht nachweisen.«
»Billigend den Tod anderer Familienmitglieder in Kauf genommen«. Als ob es dadurch weniger schlimm wäre! Sie stellte sich vor, wie ihre Mutter sich alles genau zurechtgelegt hatte: Welches Gift? Wo krieg ich es her und wann, wie und wo verabreiche ich es ihm?
Was geht in einem Menschen vor, der so was tut?, fragte sie sich nicht zum ersten Mal. Und vielleicht hat sie dabei sogar einkalkuliert, dass ich von dem SüÃzeug nasche und davon sterbe?
Oder hat sie gar nicht erst darüber nachgedacht?
»Was ist, wenn das Ganze tatsächlich so was wie ein â wie hieà das noch mal? â Haustyrannenmord gewesen ist? Wenn meine Mutter selbst Opfer von irgendwelchen Gewalttaten gewesen ist und wir mit dieser Aktion Dinge aufwühlen, die sie nicht verkraften kann?«
Zum ersten Mal mische Anatol sich in die Debatte ein.
»Dann muss sie damit leben, dass du â genau wie sie â ein Recht auf deine Gefühle hast.«
Malin dachte an Anatols Geschichte und daran, wie viel Scheitern und wie viele Neuanfänge es ihn gekostet hatte, zu dieser Erkenntnis zu kommen. In seinem Fall hatte die Wahrheit zum endgültigen Bruch mit seiner Mutter geführt.
Was ist, wenn die Geschichte mit mir und meiner Mutter schon endet, bevor sie überhaupt angefangen hat?
»Hast recht«, sagte sie leise. »Schwer ist die Entscheidung trotzdem.«
»Sehr schick!« Die Beamtin hinter der Glasscheibe nickte beeindruckt, als Kelly ihr pinkfarbenes Handy in die Zwei-Wege-Schublade legte. »Frau Siebenrock nimmt Sie dann hinter der Schleuse in Empfang.«
Die Schleuse erwies sich als langer, in undefinierbarem Graubeige gestrichener Schlauch, in dem normalerweise die Besucher auf den Einlass warten mussten; gruppenweise und nur zu bestimmten Zeiten. Heute, auÃerhalb der Besuchszeit, war der Raum leer. Die Fenster waren so hoch angebracht, dass man nicht hinaussehen konnte.
Als die Tür hinter Kelly abgeschlossen wurde und sie ganz allein in dem riesigen dämmrigen Raum stand, wurde ihr übel. Die Luft war abgestanden und Kelly hatte schlagartig das Gefühl, die Körperausdünstungen ganzer Generationen wartender, schwitzender, deprimierter oder aggressiver Menschen einzuatmen.
Sie war erleichtert, als die Schleuse auf der gegenüberliegenden Seite geöffnet wurde und eine dralle kleine Frau in Zivil ihr freundlich die Hand hinstreckte. »Guten Tag, Frau Schweikert! Siebenrock mein Name.« Das Namensschild auf Frau Siebenrocks Bluse verriet, dass sie Brigitte mit Vornamen hieÃ. Sie hatte schwarz gefärbte Haare und ihr Mascara hatte sich infolge der Sommerhitze in schmierige schwarze Brösel aufgelöst. Mit den dunklen Schatten um die Augen erinnerte sie Kelly an einen gutmütigen, kleinen Pandabär.
Der Panda stapfte voran, öffnete einen weiteren Vorraum und deutete auf eines der vielen SchlieÃfächer an den Seitenwänden.
»Hier müssen Sie leider Ihren Rucksack zurücklassen. Aber Ihre Unterlagen und das Schreibzeug dürfen Sie natürlich mitnehmen. Und wenn Sie Frau Kowalski eine Freude machen wollen, nehmen Sie auch noch ein bisschen Geld mit. Davon können Sie oben was zum Knabbern aus dem Automaten ziehen.«
Kelly öffnete ihr Portemonnaie.
Frau Siebenrock hob belehrend den Zeigefinger. »Aber nicht mehr als zehn Euro. Und nur Münzen!«
Folgsam klaubte Kelly ihr gesamtes Kleingeld zusammen und schloss ihren Rucksack ein.
Brigitte Siebenrock blätterte kurz durch das gefakede Facharbeits-Exposé und nickte Kelly aufmunternd zu.
»Ist für Sie das erste Mal, was?«
Kelly nickte beklommen und marschierte folgsam durch die Sicherheitsschleuse.
»Na, machen Sie sich man keine Sorgen.« Der Panda tätschelte ihr aufmunternd die Schulter. »Die Frau Kowalski ist âne Nette.«
Eine Etage höher, im Besuchsraum, zog Kelly zwei Flaschen Cola und eine Tüte Russisch Brot; das einzige im Automaten erhältliche Knabberzeug, das nicht zuckersüà und knallbunt daherkam und an Kindergeburtstag erinnerte.
Vor der mit Monitoren ausgestatteten Empore, auf der an Besuchstagen offenbar das Aufsichtspersonal
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