Schattenherz
wartete gespannt auf Christina Kowalskis Reaktion. Sie schwieg.
»Sie sind verwitwet, wenn ich das richtig sehe«, sagte Kelly nach einer schier endlos erscheinenden Pause.
Christina Kowalski nickte.
»Gut, so viel zu den statistisch erforderlichen Daten.«
Kelly hatte die Frage nach eventuellen Kindern bewusst ausgelassen, obwohl jedem Laien â und erst recht einer ehemaligen Studentin der Soziologie â klar sein musste, dass ohne sie die Statistik unvollständig war. Andererseits: Wenn Malins Story stimmte, war ihre Mutter infolge der Adoption zumindest im juristischen Sinne nicht mehr mit ihr verwandt.
»Gut, so viel zu den Basis-Datenâ¦Â«
Christina Kowalskis Augenwinkel zuckten. Sie wandte sich ab und starrte abwesend auf das Bild an der Stirnwand des Raumes: van Goghs Fischerboote am Strand.
Kellys Blick wanderte von den Fischerbooten zu Brigitte Siebenrock: Der freundliche Panda saÃ, auf einem Kugelschreiber kauend, am anderen Ende des Konferenztisches und blätterte in Reiseprospekten. Boote am Strand und Last-Minute-Flüge: Ferien und Fernweh schienen beim Knastpersonal ein überaus wichtiges Thema zu sein.
Kelly senkte die Stimme, um zu testen, ob die offensichtlich schwer beschäftigte Beamtin dem, was ansonsten im Raum vor sich ging, überhaupt noch irgendeine Aufmerksamkeit schenkte.
»Frau Kowalski, haben Sie sich während der Haftzeit mit dem sich verändernden Bild von Ehe und Partnerschaft beziehungsweise dem veränderten Status der Frau in unserer Gesellschaft befasst?« â So weit folgte sie immer noch dem eingereichten Fragenkatalog.
Christina Kowalski schrak aus ihrer tranceähnlichen Abwesenheit auf und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, als wolle sie einen unliebsamen Gedanken abstreifen. »Wie bitte? Was meinen Sie damit?«
»Na ja. Da hat sich ja einiges getan in der Rechtsprechung! Seit 2004 ist zum Beispiel Vergewaltigung in der Ehe ein Offizialdelikt, 2005 ist ein geändertes Ehe- und Lebenspartnerschaftsnamensrecht in Kraft getreten und so weiter und so weiter.«
»Ach? Wirklich?«
Die Aufsichtsbeamtin zog einen weiteren kunterbunten Prospekt aus dem mitgebrachten Stapel und begann, das Inhaltsverzeichnis zu studieren.
Kelly tippte mit dem Finger auf ihren Fragebogen und tat so, als gehe sie zur nächsten Frage über. Stattdessen sagte sie leise: »Frau Kowalski, bitte lassen Sie sich nichts anmerken, aber diese ganze Nummer hier ist ein einziger Fake. Tun Sie einfach so, als ob wir hier weitermachen, auch wenn ich jetzt über was ganz anderes mit Ihnen rede, okay?«
Christina Kowalskis Augen weiteten sich und sie legte erschrocken die Hand auf den Mund.
»Kommen Sie etwa ⦠von Helmut?«, stammelte sie.
»Ruhig, verdammt noch mal«, zischte Kelly, »sonst können wir das hier nicht weiter durchziehen!«
»Was will er denn noch von mir?« Christinas Hände begannen zu zittern; so heftig, dass sie sie unter dem Tisch verbarg, um keinen Verdacht zu erregen.
Kelly verdrehte ungeduldig die Augen. » Ich kenn Ihren Helmut überhaupt nicht«, wisperte sie, » und wenn er was von Ihnen will, wird er sich schon melden! Also, jetzt regen Sie sich ab und hören mir zu, ja?«
Christina nickte. Ihr Gesicht war aschfahl.
»Also. Wir machen jetzt weiter, als ob nichts wäre. Und dann werd ich Ihnen zum Abschied eine Visitenkarte überreichenâ¦Â«
»Ja. Gut. Und dann?«
»Da steht âne Adresse drauf: c/o Sven Martens. Und âne Handynummer. Schreiben Sie da ân Brief hin oder noch besser: Rufen Sie an! Sie dürfen hier doch telefonieren, oder?«
»Ja. Schon. Aber nur zu bestimmten Zeiten.«
»Na gut, dann rufen Sie da an, sobald Sie können.«
»Aberâ¦Â« Christinas Stimme klang wie ein Aufschrei.
»Alles in Ordnung?« Brigitte Siebenrock warf einen kurzen Blick zu ihnen hinüber. »Ach, herrje«, sie sprang auf, »Sie sitzen ja auf dem Trocknen!«
Sie griff in ihre Tasche, förderte einen Kapselheber zutage und kam zu ihnen, um die beiden Colaflaschen zu öffnen.
Die Tüte mit dem Russisch Brot lag aufgerissen auf dem Tisch.
»Nehmen Sie sich ruhig auch was«, sagte Kelly und schob der Beamtin die Tüte entgegen, » oder ist das verboten?«
»Danke!« Brigitte Siebenrock schob sich genüsslich ein U in den Mund. » Ich hab gelesen, Russisch Brot ist das fettärmste
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