Schattenherz
Ich habe nicht vernünftig mit ihnen reden können, mich jedoch nicht getraut, Euch zu behelligen.«
»Traut es Euch nächstes Mal«, gab sie zurück.
»Da wären noch einige andere Dinge«, fügte er hinzu.
»Zum Beispiel?«
»Hunderte Menschen sind zu krank zum Fliehen. Einige sind zu alt, zu sehr geschwächt. Darunter befinden sich auch Frauen, die während der letzten Stunden Kinder entbunden haben, oder Krieger, die bei den Wettkämpfen gestern verletzt wurden. Sie haben in der Burg um Zuflucht ersucht. Ich habe sie in die Gasthäuser schaffen lassen, bis entschieden würde, was zu tun ist.«
»Können wir sie auf Karren laden?« fragte Iome.
»Ich habe Ärzte mit denen sprechen lassen, die überhaupt reden können. Wer auf einen Karren geladen werden kann, ist längst fort. Einige Ärzte haben angeboten, hierzubleiben und sich um die Kranken zu kümmern.«
Iome verzog verzweifelt das Gesicht. Natürlich waren sie nicht transportfähig. Diese Leute konnten sich keine fünf Meilen – erst recht nicht die erforderlichen fünfzig – pro Tag fortbewegen. »Laßt sie hier«, entschied sie. »Einige werden eben bleiben und sich verstecken müssen.« Sie überlegte, ob sie die Ärzte abkommandieren sollte, da sie befürchtete, diese überaus erfahrenen Männer und brauen zu verlieren, wagte aber nicht, den Kranken und Sterbenden ihren Beistand vorzuenthalten. In diesem Augenblick schlenderte Binnesman von irgendwo außerhalb der Stadt durch das Gedränge der Krieger heran. Der Sack auf seinem Rücken war über und über mit Goldlorbeerblättern vollgestopft. »Laßt sie hierbleiben, Euer Hoheit«, rief er aus einiger Entfernung, »aber nicht in den obersten Zimmern der Gasthäuser. Geht statt dessen in die tiefsten Keller, tief unter der Erdoberfläche. Ich werde Runen an den Türen anbringen, die helfen sollen, sie zu verbergen, außerdem werde ich ihnen einige Kräuter dalassen, die vielleicht ein wenig Schutz bieten.«
Iome war über jegliche Vernunft hinaus erleichtert, Binnesman zu sehen. Während er näher kam, verstand sie den Grund. In der Vergangenheit hatte sie oft die Kraft Erde gespürt, die sich in ihm sammelte, eine leicht beunruhigende Kraft, die Geburt und Wachstum verhieß und sie mit schöpferischer Sehnsucht erfüllte. An diesem Morgen jedoch mußte er mächtige Schutzbanne ausgesprochen haben, denn sie fühlte sich wie ein gehetzter Reiter auf der Flucht vor Feinden, der sich plötzlich sicher innerhalb der Mauern einer Burg weiß.
Das ist es, erkannte sie. An diesem Morgen fühlte sie sich in seiner Gegenwart sicher. »Ihr wirkt übermüdet. Kann ich Euch irgendwie helfen?«
»Ja«, erwiderte Binnesman. »Ich würde mir weniger Sorgen um Euch machen, Euer Hoheit, wenn Ihr wie alle anderen die Stadt verließet.«
Iome ließ den Blick über die Felder schweifen. »Noch sind nicht alle aufgebrochen, außerdem kann ich erst fort, wenn ich alles in meiner Macht Stehende für die Sicherheit meines Volkes getan habe.«
Binnesman räusperte sich. »Das klingt, als hätte Euer Gemahl gesprochen.« Seine Stimme jedoch verriet keine Mißbilligung. Einen Augenblick lang betrachtete er Myrrima und sie eingehend. »Es gibt etwas, das Ihr tun könntet, wenn ich auch zögere, darum zu bitten.«
»Nur zu«, forderte Iome ihn auf.
»Besitzt Ihr einen schönen geschliffenen Opal, den Ihr bereit wärt, mir zu überlassen?« fragte Binnesman. Sein Ton ließ darauf schließen, daß sie ihn niemals wiedersehen würde.
»Meine Mutter hatte eine solche Halskette mitsamt
Ohrringen.«
»Mit dem entsprechenden Zauberspruch können sie
mächtige Schutzzauber gegen die Geschöpfe der Finsternis bilden«, erklärte Binnesman.
»Dann sollt Ihr sie bekommen, vorausgesetzt, ich kann sie aus ihrer Fassung brechen.«
»Laßt sie, wie sie sind«, sagte Binnesman. »Je größer und leuchtender der Stein ist, desto besser ist der Schutz. Und Opal bricht leicht.«
»Ich werde sie holen gehen«, sagte sie. Sie hatte sie nicht in die Schatzkammer gebracht, und jetzt fiel ihr daß sie die Schmucktruhe ihrer Mutter hinter dem Schreibtisch in ihrem Zimmer versteckt hatte. »Ihr findet mich in der Nähe der Gasthäuser«, meinte Binnesman. »Die Zeit wird knapp.« Iome und Myrrima ritten zurück zum Turm des Königs und stiegen hinauf zum obersten Zimmer. Sir Donnor und Iomes Days trauten sich nicht, das Schlafgemach der Königin zu betreten, daher blieben sie draußen im Nebenraum zurück.
Die Schmucktruhe enthielt die
Weitere Kostenlose Bücher